: Rust never sleeps
Viele kunstfertige Inszenierungen, aber nur wenig Neues: Das Theatertreffen 2001 war eine Feier des alten Westberlins. Neue Formen und junges Theater dagegen gab es vor allem bei der Experimenta in Frankfurt und beim „reich & berühmt“-Festival
von CHRISTIANE KÜHL
Kostja ist einer von uns. „Wir brauchen neue Formen!“, ruft der junge Dramatiker, „neue Formen brauchen wir, und wenn sie nicht da sind, ist es besser, es gibt überhaupt nichts.“ Kostja hat eine Vision und ein Anliegen und einen großen Ekel vor dem selbstgefällig Erstarrten. Heute Abend soll die hohle Tradition gesprengt werden, auf dieser leeren Bühne, die er vor der notorisch gelangweilten Verwandtschaft errichtet hat. Ein Vorhang muss dafür nicht hochgehen. Nina, Geliebte und Hauptdarstellerin, greift zum Mikrofon. „Riechen Sie das? Das Theater öffnet sein Maul, und heraus steigt der modrige Geruch des 19. Jahrhunderts. Was man hier für eine Figur hält, ist eine Schabracke aus Vorurteilen und Allgemeinplätzen.“
Ruhig und aufrecht steht Nina alias Sarah Masuch, den Blick direkt ins Publikum des Hamburger Schauspielhauses gerichtet: „Scharlatane sind unter uns. Sie behaupten zu wissen, was eine richtige Figur sei. Glauben Sie diesen Herrschaften kein Wort. Sie sind zu feige, hinter sich selbst zu gucken und sich auf das Spiel einzulassen, das wir das neue Theater nennen.“
Kostja ist einer der Ihren. Er ist jung, er ist nervös, er ist fanatisch, und dass er scheitern wird, liegt auf der Hand. Wenn er seine Nina alias Johanna Wokalek vor das Publikum des Wiener Burgtheaters zieht und sie wie eine debile Marionette „Die Weltseele, das bin ich“ leiert, herrscht augenblicklich große Einigkeit, dass das Theater die neuen Formen doch lieber stecken bleiben lassen soll. Kostjas Wille zum Aufbruch stellt sich dar als Dogmatik gepaart mit mangelndem Talent. Zwar ist es verletzend, doch ist es nur recht, dass die Alten sich umgehend abwenden.
Tschechows „Möwe“ ist das Stück der Saison. Zwei exzellente Aufführungen wurden eingerichtet, eine vergangenen Mai von Luc Bondy in Wien mit August Diehl als Kostja (der dafür am Freitag mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet wurde) und Jutta Lampe als seine Mutter (die für diese Rolle zur Schauspielerin des Jahres gewählt wurde); eine andere, ganz andere im Dezember von Stefan Pucher in Hamburg mit Alexander Scheer und Sabine Orléans.
Nun waren beide Inszenierungen wieder zu sehen: Bondys beim altehrwürdigen Berliner Theatertreffen und Puchers bei der neu aufgelegten Experimenta in Frankfurt am Main. Ihre unterschiedlichen Ansätze sind dabei fast exemplarisch. Der 52-jährige Bondy hat sensibelstes Schauspielertheater auf die Bühne gebracht, der Thirtysomething Pucher ein aktuelles, auf vielen Ebenen funktionierendes Spiel. Womit wir beim Thema des Jahres wären: Alt versus Jung.
Diese Debatte war mit den Einladungen zum Theatertreffen losgetreten worden. Gleich vier gingen ans konservative Wiener Burgtheater; an die jungen Regisseure, die in den vergangenen Jahren das Staatstheater erobern konnten, hingegen keine einzige, weshalb sie flugs mit der Experimenta ein Gegen-Theatertreffen organisierten. War anfangs die Aufregung groß, behaupten mittlerweile beide Seiten, gar keine grundlegenden ästhetischen Differenzen oder anderen Konfliktstoff konstatieren zu können. Es gäbe neue Formen im Theater, die wohl in Frankfurt gezeigt würden, vermutete der Juryvorsitzende Peter Iden; das sei ein Beweis für die Lebendigkeit des Theaters und beflügelnd. Dass es dem wichtigsten deutschen Theatertreffen selbst gut anstehen würde, durch eine polarisierende, lebendige Auswahl zu beflügeln, war wohl niemandem in den Sinn gekommen.
Das Theatertreffen 2001, das letzte unter der Ägide von Torsten Maß, bevor Markus Luchsinger den Theaterbereich der Berliner Festspiele leiten wird und eine neue Jury Entscheidungen trifft, war eine Feier des alten Westberlins. Im Haus der ehemaligen Freien Volksbühne, die jahrelang leer stand bzw. als Musicaltheater geführt wurde, versammelten sich Abend für Abend all jene leicht ergrauten, freundlich distinguierten Kulturbürger, denen in den vergangenen Jahren ihr Theater abhanden gekommen war. Dass sie vor allem der Verlust der alten Schaubühne schmerzt, zeigte sich beim Schlussapplaus: Jutta Lampe, Angelika Winkler, Gert Voss, Luc Bondy und Peter Zadek wurden mit Ovationen überschüttet, als seien verlorene Kinder endlich heimgekehrt. „Alles Schauspieler und Regisseure, die hier so beliebt sind, aber nicht gefragt“, formulierte es der Schauspieler Walter Schmidinger in seiner Laudatio auf August Diehl.
Jüngeres Publikum war bei den kunstfertigen Inszenierungen der Altmeister kaum auszumachen. Menschen unter 40 freuten sich über ein Wiedersehen mit Christoph Marthaler, der seine schöne, trunkene und trunken machende Zürcher „Was Ihr wollt“-Inszenierung zeigte, oder über Frank Castorfs „Endstation Amerika“, die zwar nicht überrascht, aber Castorf doch endlich wieder in Höchstform zeigt. Auch Schlingensiefs „Hamlet“ mit „echten“ Nazis oder Ex-Nazis war ein Hit: Sechs Stunden vor Vorstellungsbeginn soll sich an der Volksbühne bereits eine Warteschlange für Restkarten gebildet haben. Wer darüber hinaus an neuen Formen interessiert war, ging ins Podewil, wo das „reich & berühmt“-Festival neueste Arbeiten aus dem Performancebereich präsentierte. Dort zeigten Autorinnen wie Gesine Danckwart, Regisseure wie Janec Müller und Performer wie Vaginal Davies, dass man weder den Schauspieler noch den Inhalt noch das Theater verraten muss, wenn man jenseits von psychologischem Realismus arbeitet.
„Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass es nicht auf alte und junge Formen ankommt, sondern darauf, dass man schreibt, ohne an irgendwelche Formen zu denken, dass man schreibt, weil da etwas frei aus der Seele hervorströmt“, räsonniert Kostja bei Tschechow kurz bevor er sich die Kugel gibt. Überraschend ähnlich äußert sich Michael Thalheimer: „Ich kann mich nicht darum kümmern, ob ich altes oder junges Theater mache – ich versuche einfach, meine Geschichten zu erzählen.“ Fast banal klingt das, doch wer Thalheimers Inszenierungen gesehen hat, weiß, dass Banalität nur in Paralleluniversen seiner Arbeiten existiert. Zum Theatertreffen wurde der 35-Jährige mit zwei Inszenierungen geladen: der Dresdner Produktion „Das Fest“ nach dem Drehbuch von Thomas Vinterberg und mit „Liliom“ von Franz Molnár.
Bei der Premiere am Hamburger Thalia Theater hatte „Liliom“ für einen Skandal gesorgt: Exbürgermeister Klaus von Dohnanyi verließ schreiend den Saal. „Das ist ein anständiges Stück! Das muss man doch nicht so spielen!“ Das muss etwa zu der Zeit gewesen sein, als Liliom – ganz großartig: Peter Kurth, genauso Fritzi Haberlandt als Julie – sich ein Messer in den Bauch rammte und minutenlang umrührte, während Neil Young „old man take a look at my life / i’m a lot like you were“ sang. Tatsächlich gehört Thalheimers Interpretation des Stücks, die es radikal auf die nackte Hilflosigkeit dieser in sich gefangenen, fast sprachlosen Menschen reduziert, in ihrer formalen Strenge zu den eindringlichsten Inszenierungen der Spielzeit. Und man muss es der Jury danken, dass sie den seit Jahren in Sachsen schaffenden Künstler endlich in der Hauptstadt vorstellt.
Neil Youngs Song vom versöhnlichen jungen Mann, der sich im alten sieht, wird auch in Puchers „Möwe“ gesungen. Die scheidende Jury will sich fortan umgekehrt in den Jungen spiegeln: Sie planten, kicherte Jurorin Ulrike Kahle, fürs nächste Jahr eine Gegen-Experimenta. Da sind auf die alten Tage wohl noch einmal Flügel gewachsen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen