Polymorph erfindungsreich

Seit fast dreißig Jahren verfolgt die französische Autorin Catherine Breillat mit ihren Filmen und Romanen ihre Vision einer triebhaft-zerstörerischen Sexualität. Jetzt gewährt eine komplette Retrospektive im Arsenal Einblick in die Welt der Sexualcodes, Fantasmen und überschäumenden Sekrete

von KATJA NICODEMUS

Es ist eine feuchte, klebrige und bedrohliche Welt. Eine Welt, in der die Väter ihren halbwüchsigen Töchtern beim Fernsehgucken fast beiläufig den erigierten Schwanz entgegenhalten, in der sich junge Mädchen mit polymorpher Erfindungsgabe durch die Gegend reiben und nichts sicher scheint vor dem geheimen Strom der überbordenden Sekrete. Seit dreißig Jahren arbeitet die französische Autorin Catherine Breillat mit ihren Filmen und Romanen an einer befremdlichen Vision expliziter Heterosexualität, einer Mischung aus privaten Fantasmen und kulturhistorischen Beobachtungen, erotischen Codes und feministischer Kampfbereitschaft.

Breillats Heldin Marie, die in ihrem Film „Romance“ in einer aseptischen weißen Wohnung verzweifelt versucht, an ihren frigiden Freund heranzukommen, ist inzwischen zu einer Chiffre moderner Sexual- und Beziehungsökonomien geworden. Dass Sex und Geist irgendwann wieder zusammenfinden könnten, ist eine Illusion, die sich Breillats Kino längst abgeschminkt hat.

Catherine Breillat hat sich in Frankreich das Label der ewigen Tabubrecherin verdient. Ihre Konzentration auf die triebhafte, gefräßige und latent zerstörerische Sexualität sowie ihre unbestechlichen Einsichten in die Windungen pubertärer Erotik werden flankiert von einer unglaublich eloquenten Bereitschaft zum Überbau. Letztlich kann man nur dankbar sein für so viel militante Thesenbereitschaft, zumal es theoriegesättigte Regisseurinnen, die im Gespräch mal eben von Deleuze über „Totem und Tabu“ zu Foucault hüpfen, heute nicht gerade wie Sand am Meer gibt. Sexualität als männliche Machtausübung, Phallozentrismus und viriles Imaginäres – dide Schlagworte, mit denen die an Lacan und den Strukturalisten geschulte Breillat leicht bei der Hand ist, wirken in ihrer antipatriarchalischen Eindeutigkeit manchmal etwas altmodisch. Die Bilder, die sie in ihren Filmen entwirft, irritieren dagegen gerade, weil die Grenze zwischen Begehren und Bedrohung, Unterwerfungsfantasien und tatsächlicher Unterdrückung fließend sind.

Breillats größte Stärke ist die Inszenierung einer kreatürlichen Geilheit, die prompt dazu führte, dass ihr erster, 1976 entstandener Film „Une vraie jeune fille“ in Frankreich bis jetzt verboten war. Wobei die batailleartigen Fantasien der jungen Heldin, in deren Kopf Sexualität und Todestrieb immer wieder auf wunderbar eklige Weise miteinander verschmelzen, sogar noch heute aus dem pornografischen Bilderrepertoire des Kunstkinos herausragen. Wenn Alice am einsamen Strand schwimmen geht, wird der Schlüpfer auf einem verwesenden Hundekadaver abgelegt. Später bietet sie sich einem knackigen Kerl an, der schwitzend in der Sägemühle ihres Vaters malocht – als proletarisches Pin-up im Muscle-Shirt die reine weibliche Wunschprojektion. Erst lässt der Auserwählte einen fetten Regenwurm in eine Großaufnahme ihrer Vagina herab. Dann reißt er den Wurm in kleine Stücke, die zwischen ihren Schamlippen herumkriechen.

Mit solchen Bildern, die bei aller Provokationslust immer etwas Zwingendes haben, so als tauchten sie aus einer Bewusstseinsschicht hervor, die nicht einmal mehr psychoanalytisch fassbar ist, beschreibt „Une vraie jeune ville“ die Befindlichkeit einer Pubertierenden, die sich mit ihrer Sexualität völlig aus ihrer kleinbürgerlichen Umgebung ausklinkt. Schon wenn Alice, die ihre Sommerferien bei Papa und Mama auf dem Land verbringt, zu Hause ankommt, sind die Fronten klar: Von weitem betrachtet sie die Eltern wie Fremde und knutscht erst mal den Hund ab. Auf ein eingefahrenes Begrüßungsritual folgt wortloses Beisammensein beim Tee, wobei sich Alice heimlich den Löffel zwischen die Beine schiebt. In „Une vraie jeune fille“ ist der inzestuös vorgestreckte Schwanz des Vaters für die libidinös überschäumende Tochter auch nur eines von vielen Zeichen einer erotischen Aufladung der Welt – das passt nicht gerade zum stramm antipatriarchalischen Feminismus der Siebzigerjahre.

Die weibliche Suche nach einer Sexualität jenseits der gesellschaftlichen Kodierungen ist Breillats großes Thema, mit dem sie in ihrem Diskursfilm „Romance“ in Frankreich immerhin eine neue Pornografiedebatte auslöste. Mit der fantasmagorischen Geschichte einer auf den frigiden Lebensgefährten fixierten jungen Lehrerin, die ihre Befriedigung bei einem Pornodarsteller und ihr Glück in sadomasochistischen Fesselungsritualen findet, surft sie von Entfremdungsmetaphern über Bondage- und Unterwerfungsfantasien bis zum flamboyanten Bekenntnis zur Mutterschaft. Theorie, Selbstfindung, die aseptische Sexualität der Moderne, Matriarchat und lustvolle Pornografie – „Romance“ ist ein an der Ästhetik sakraler Renaissance-Bilder geschulte Schatztruhe der Sexualität des 21. Jahrhunderts.

Catherine Breillats Filme, die im Übrigen fast alle auf ihren Romanen beruhen, sind in ihrer fast anthropologischen Fixiertheit auf die Sexualität unter den Bedingungen der Moderne im besten Sinne diskutabel. Dass sie dabei weniger thesenhaft sind als ihre Autorin immer wieder beteuert, zeigt auch ihre sensationslüsterne, fast ironische Vorliebe für äußerst gewalttätige Enden. In „Une vraie jeune fille“ endet das männliche Objekt der Begierde erschossen in einer Hasenfalle im Maisfeld, in „Parfait amour“ steht am Ende der Leidenschaft ein Liebesmord, in „A ma soeur“, der auf der letzten Berlinale uraufgeführt wurde, ermordet ein Vergewaltiger eine aus dem Urlaub heimkehrende Familie, in „Romance“ stirbt der frigide Macho mitsamt seiner Wohnung bei einem Gasexplosion. Irgendwie jagen Breillats Filme am Ende immer auch ihre eigene Diskurshaftigkeit in die Luft. Nach dem Knall fliegen noch genug unzerstörbare Bilder durch die Gegend.

„Jenseits der Tabus – Die Filme von Catherine Breillat“, bis 9. Juni im Arsenal. Heute, 21 Uhr, Eröffnung mit „Une vraie jeune fille“ in Anwesenheit von Catherine Breillat, die aus dem gleichnamigen Roman liest.