Ängste sind nie altmodisch

Unsere Mütter warnte man vor der Schande, uns vor der „Verfügbarkeit“. Wir warnen unsere Töchter heute vor Aids

von BETTINA GAUS

Die Akzeptanz ging rasend schnell. War irgendwann einmal erbittert über das Für und Wider der Pille diskutiert worden? In grauer Vorzeit vielleicht. Als sie zehn Jahre zuvor erfunden worden war. Damals war ich vier Jahre alt. Inzwischen empfahl mein Biologielehrer sie im Sexualkundeunterricht. Längst war die Pille kein Tabuthema mehr, auch für viele Erwachsene nicht. Bei manchen Leuten lag die Packung im Badezimmer, bei anderen auf dem Nachttisch. Der Papst war dagegen? Im protestantischen Hamburg allenfalls Anlass für achselzuckendes Amüsement. Skurril. Die Pille war kein Thema. Sie war eine Selbstverständlichkeit. Und das würde sie bleiben, bis in alle Ewigkeit.

Die Ewigkeit dauerte etwa zehn Jahre. „Mir war die Pille total unheimlich“, sagt Lena, Jahrgang 1968. „Die Umweltbewegung war auf ihrem Höhepunkt, als ich ein Teenager war. Ich hatte ohnehin das Gefühl, dass meine ganze Umgebung voller Gift war. Da wollte ich mich nicht noch zusätzlich mit Chemie vollpumpen. Und ich wollte auch nicht sexuell zur Verfügung stehen.“ Zur Verfügung stehen? Das war nicht das, woran die damals 15-jährige Katrin gedacht hatte, als die Pille 1961 erfunden wurde. Im Gegenteil. Von selbstbestimmter, freier Sexualität träumten sie und ihre Freundinnen. Beim Träumen blieb es damals allerdings: „Wir haben pausenlos darüber gesprochen, aber ich glaube, Ernst gemacht hat in unserer Klasse niemand. Es war irgendwie eine Verheißung, nicht Teil unseres Alltags.“

Katrin hat sich die Pille erst viele Jahre später verschreiben lassen, nach dem ersten Kind. „Bestimmte altmodische Ansichten bleiben sehr viel länger im Bauch als im Kopf.“ Mit einem etwas verlegenen Lachen sagt sie das. Es klingt defensiv. Ob jemals eine andere Erfindung als die Pille vergleichbar viele Frauen dazu gebracht hat, sich für ihre eigenen Überzeugungen zu genieren?

„Meine Mutter hatte nie einen anderen Freund als meinen Vater“, erzählt Lena. „Sie hatte Angst, wenn meine Freunde wechselten, aber sie wusste selber, dass sie mit dieser Einstellung eigentlich unzeitgemäß war.“ Ein „hilfloses Schweigen“ habe deshalb geherrscht. Dabei hätte der Mutter die Einstellung ihrer Tochter vermutlich gut gefallen – wenn sie diese denn gekannt hätte: „Ich habe Sex sehr lange auf ein ganz hohes Podest gestellt“, sagt Lena. „Er war eng an Liebe gekoppelt. Es musste erst einmal der ‚Richtige‘ kommen.“ Von der veröffentlichten Meinung zum Thema war sie mit dieser Einstellung weit entfernt.

Mit 17 noch Jungfrau? In meiner Jugend war das etwa ebenso peinlich wie das Gegenteil in der Jugend meiner Mutter. In Abwesenheit ihrer Eltern hatte sie meinen Vater seinerzeit als 20-Jährige nur unter der Kastanie im Garten bewirten, ihn aber nicht ins Haus bitten dürfen. Ihre jüngere Tochter fragte sie später mit all dem Hochmut, zu dem Teenager fähig sind, was denn wohl unmoralischer daran sein solle, mit dem Freund ein Wochenende zu verbringen als mit ihm nachmittags um vier zu schlafen. „Ich nehme schließlich die Pille.“

Ein Totschlagargument. Hätte meine Mutter noch etwas über unterschiedliche Formen der Verbindlichkeit von Beziehungen sagen sollen? Und darüber, dass die Möglichkeit der Unverbindlichkeit auch ein Vorrecht sein kann – und nicht nur eine Beschränkung sein muss? Ein Hohnlachen wäre die Folge gewesen. So schwieg sie denn, als ich mit Sack und Pack ins Wochenende zog. Dazu gehörte übrigens auch die Blümchenbettwäsche, die meine Großmutter mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Für die Aussteuer. „Ich wusste ja, dass ich altmodisch war“, sagt meine Mutter heute. Und nach kurzem Zögern: „Ich glaube, ich bin immer noch altmodisch.“

Altmodisch: Kein anderes Wort taucht in Gesprächen mit Frauen unterschiedlichen Lebensalters über die Pille so oft auf wie dieses. Katrin hat als erwachsene Frau die Möglichkeit einer sicheren Verhütung als Befreiung empfunden – und wollte trotzdem die Freundinnen ihrer jungen Söhne nicht als Übernachtungsgäste im Haus: „Ich hatte diffuse Ängste. Ich dachte, das bekommt so etwas Verpflichtendes, aber das konnte ich denen ja nicht klarmachen. Deshalb habe ich etwas ganz Blödes gesagt, so in der Art, dass das dem Ruf der Mädchen schadet. Aber ich stehe zu meiner Entscheidung auch heute noch. Teenager kommen da unter Umständen in Abhängigkeiten rein, die sie gar nicht wollen, aber sie haben einfach nicht die Lebenserfahrung, das zu überblicken.“

Ein altmodischer Standpunkt, auch das. Wir, die Mütter der Teenager von heute, sind gar nicht mehr altmodisch. Unser ganzes Leben haben wir unter dem Diktat der sexuellen Freiheit verbracht, und deshalb gibt es für uns auch keine Tabuthemen mehr. Unsere Töchter müssen zur Selbsthilfe greifen. Als eine Freundin meiner Tochter zum ersten Mal mit dem Jungen ihres Herzens zum Kino verabredet war, bestand sie darauf, dass Nora sie begleitete. Wenn die Erwachsenen nicht mehr für Anstandsdamen sorgen, regeln die Jugendlichen das untereinander.

Kürzlich haben meine Tochter und ich uns über Liebesbeziehungen zwischen Teenagern unterhalten. Am nächsten Morgen sagte Nora, sie habe über unser Gespräch nachgedacht: „Es ist nicht deine Aufgabe, mit mir über so etwas zu reden, sondern es ist deine Aufgabe, mir so etwas zu verbieten.“ Das hörte sich nur halb ironisch an. Ach, Kind. Warum glaubst du, dass ich mit dir so ausführlich über die Gefahren von Aids spreche? Vielleicht bleibt die Summe aller Ängste immer gleich.