Das Beste verpasst?

Städtische Nischen schwinden, doch Berlin profitiert weiterhin von temporären Nutzungen. Teil V der Serie „Wir Kinder vom Potsdamer Platz“

von LARS KLAASSEN

„Früher war alles besser“ – diesen Spruch bekam ich Anfang 1992, wenige Tage nach meiner Ankunft in Berlin, in SO 36 zum ersten Mal vorgesetzt. Die Lebenseinstellung meiner Großeltern im für den Neuankömmling exotischen Kreuzberg vorzufinden, war befremdlich. Alte Hausbesetzer-Veteranen lamentierten über den Trubel der seit Mauerfall in der einstigen Alternativ- Oase vorherrsche. Man war nicht mehr „unter sich“. Warum, um alles in der Welt, ziehen die Leute nicht auf Land, wenn sie ihre Ruhe haben wollen, fragte ich mich, der den Trubel suchte.

Im Osten ging es in Variationen weiter mit dieser Leier. Die Wende-Avantgarde in Prenzlauer Berg verklärte entweder trotzig das Leben im real existierenden Sozialismus – allerdings weniger aus echter Ostalgie heraus als mehr zur spielerischen Provokation unbedarfter Westler. Andere blickten die zu spät Gekommenen mitleidig an und offenbarten mit leicht verzücktem Blick: „Du hast das Beste hier schon verpasst ...“ Hier war der Blick zumindest nicht in die graue Vorzeit, sondern auf die noch nicht ganz vergangene Gegenwart gerichtet. Das goldene Zeitalter dieser Menschen war zwischen Mauerfall und staatlicher Vereinigung angesiedelt.

Dass ich von dieser guten alten Zeit wohl doch nicht gänzlich alles verpasst hatte, dämmerte mir, als ich selbst diesen Satz mit ebenfalls leicht verklärtem Blick den noch später Gekommenen servierte. Was genau alle Neuankömmlinge im Gegensatz zu den mehr oder minder Eingesessenen nicht mehr miterleben dürften, war mir allerdings selber nicht ganz klar.

Für einen 22-jährigen „Wessi“ wie mich boten Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Mitte und auch Kreuzberg zunächst eine fantastische Kulisse: Alles war groß, unübersichtlich und ganz anders als zu Hause. Von der kleinen, heilen Welt der 80er-Jahre-BRD war hier nicht viel zu spüren. Die Kulisse wurde bald zum neuen Zuhause und offenbarte jenseits dieser Oberfläche noch andere Qualitäten.

Jenseits der antibürgerlichen Ästhetik des Chaos und Verfalls eröffnete sich im Nachwende-Berlin schnell ein neuartiger Möglichkeitssinn, der sich in mannigfachen Freiräumen entfalten konnte. Da gab es zunächst die Freiheiten von diversen Zwängen, die bislang Selbstverständlichkeiten waren: teure Mieten wegen Wohnraummangel und Sanierungswut, die Kontrolle durch staatliche Bürokratie und ordnungsliebende Nachbarschaften. Nicht zuletzt freie Räume schufen Freiräume zur Umsetzung eigener Ideen. Polenmarkt, besetzte Häuser, Volxgolf und „illegale“ Clubs waren einige der Blüten, die diese „Freiheit von“ mit neuem Leben gefüllt haben. Heute sind sie im Begriff auszusterben – das Beste habt ihr eben schon verpasst ...

Der Potsdamer Platz ist das Symbol für die Versiegelung sozialer Freiflächen im Berlin der Nachwendezeit. Was dort wie auch andernorts in kleinerem Maßstab aus dem Boden gestampft wurde ist eine Chimäre aus aufgeblasenem München und New York für Arme. Entgegen allen Kassandrarufen diverser Stadtplaner und Architekten ist der Potsdamer Platz zwar keine urbane Totgeburt im engeren Sinne – das Areal wird nicht nur von Touristen und Aktentaschenträgern, sondern auch von den Eingeborenen der umliegenden Bezirke frequentiert. Aber ein Hofbräuhaus in der zwanghaft modernistischen Shoppingmall namens Sony-Center, vis-à-vis ein zaghafter 100-Meter-Turm, der an das Chicago der 30er erinnert ... wenn das das „Neue Berlin“ sein soll, dann war das „Alte“ allemal spanender.

In den vergangenen zehn Jahren – und auch schon im Kreuzberg der 80er – war die Stadt durch einen umfassenden Leerstand geprägt, der vieles ermöglichte. Auch heute noch stehen mehrere Millionen Quadratmeter Gebäude in Berlin leer. Hunderte von Hektar innerstädtischer Brachflächen sind auch mittelfristig städtebaulich nicht entwickelbar. Was sich für die Stadt und die Protagonisten des „Neuen Berlins“ zu einem großen Problem entwickelt hat, stellt nach wie vor eine Chance für andere Akteure dar.

Ob und wie diese Chancen genutzt werden, ist auch künftig eine der entscheidenden Weichenstellungen in der Entwicklung Berlins. Die Hausbesetzungen im Kreuzberg der Vorwendezeit hatten ebenso wenig nur vorübergehenden Charakter wie die Aneignungen von frei stehendem Wohnraum nach dem Mauerfall im Ostteil der Stadt. Immerhin ein Drittel der Anfang der 80er rund 500 besetzten Häuser erhielten Kauf- oder Mietverträge. Dort etablierte sich ein Netzwerk der Alternativkultur, das bis heute prägend wirkt. „Tacheles“ und „Acud“ sind zwei Beispiele einer ähnlichen Etablierung in den Ostbezirken der 90er.

In einer schrumpfenden Stadt – dieser Prozess ist keine Berlin-typische Ausnahme, sondern findet in fast allen europäischen Städten statt – bergen vor allem temporäre Nutzungen ein dynamisches Potenzial für die Stadtentwicklung. Die Tugend der Improvisation jedoch wurde in den vergangenen zehn Jahren sträflich missachtet. Auf der Suche nach sich selbst hat sich die Stadt in Metropolen- und Hauptstadtträume verirrt, aber keine selbstverständliche Gelassenheit erreicht. Doch auch in der Post-Pots-Platz-Ära weisen Analysten des Improvisierten einen alternativen Weg für die verunsicherte Stadt: „Vielleicht entwickelt sie gerade in diesem permanenten Scheitern ihre Intensität, ihr Potential, gar ihre Größe.“ Dieser Hoffnung verleiht Philipp Oswalt in seinem Buch „Berlin – Stadt ohne Form“ Ausdruck. Vielleicht haben wir das Beste ja sogar noch vor uns.

Der Autor, Jahrgang 1969, kommt aus Köln und arbeitet als freier Journalist in Berlin