Ressource der subjektiven Sinnstiftung

Junge Muslime werden in Frankreich ebenso ausgegrenzt wie bei uns. Ihre Reaktion: betonte Religiosität. Eine brillante Studie von Nikola Tietze

Die Muslime in Deutschland gelten als dünnhäutig, wenn es um ihre Religion geht. Witze über Gottes Hinterteil finden die meisten von ihnen überhaupt nicht lustig, wie die Wahrheitsreaktion der taz vor einiger Zeit feststellen musste. Als sie nach Erklärungen für die überraschend heftigen Reaktion suchten, wurden zum einen organisierte Fanatiker verantwortlich gemacht und zum anderen ein gewisser Mangel an Säkularität bei den hiesigen Muslimen. Deren fremd anmutende Reaktionen verbreiten ein spürbares Unbehagen.

Nur: Was weiß man eigentlich über die deutschen Muslime? Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat 1997 mit Kollegen unter dem suggestiven Titel „Verlockender Fundamentalismus“ eine nicht minder suggestive Befragung unter Jugendlichen türkischer Herkunft gemacht und die Gefahr des politisierten Islam beschworen. Eberhard Seidel, Claudia Dantschke und Ali Yildirim haben sich kürzlich in einem Bericht über die „Politik im Namen Allahs“ mit den Strukturen und Zielen von islamistischen Organisationen beschäftigt. Einblicke jedoch in die subjektive Dimension haben bislang nur die Studien Werner Schiffauers gewährt. Eine wesentliche Bereicherung der Debatte bietet Nikola Tietzes Buch „Islamische Identitäten“ über die unterschiedlichen „Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich“.

Tietze interessiert sich in erster Linie dafür, welche Rolle die islamische Religiösitat im Prozess der Subjektivierung spielt, und das bedeutet für sie: „Eine Analyse der islamischen Organisationen in Deutschland und Frankreich kommt der Realität nur begrenzt näher.“ Die junge Wissenschaftlerin hat eine für hiesige Verhältnisse erstaunliche Arbeit geschrieben. Zum einen basiert ihre Untersuchung auf qualitativen Interviews, was in der deutschen Migrationsforschung immer noch recht ungewöhnlich ist – gerade in der Soziologie waren Migranten lange mehr „Problem“ als potenzielles Subjekt. Zum anderen werden die Aussagen der Interviewpartner stets mit dem sozialen und institutionellen Kontext zusammen interpretiert – das ist stark inspiriert von der Arbeitsweise am „Centre d’Analyse et d’Intervention Sociologiques“, an dem Tietze geforscht hat.

Zunächst konterkariert die Autorin ganz bewusst die üblichen Ansichten über den Islam in Deutschland und Frankreich. In der Bundesrepublik wird gewöhnlich nur die ethnische Dimension beachtet: Der Islam wird auch in der zweiten Generation mit dem „ausländischen“ Erbe gleichgesetzt. Dagegen hält Tietze den „Islam der jungen Generation“ für ein Phänomen des Einwanderungslandes, das ebenso wie auch die Entstehung einer „türkischen Identität“ nur im Rahmen der deutschen Gesellschaft verständlich wird. Tatsächlich trägt der „türkisierende Blick“ der deutschen Öffentlichkeit zu solchen Konstruktionen bei – ebenso wie herrschende Vorstellungen in Frankreich, die aus jedem Franzosen arabischer Herkunft einen Muslim machen. In Frankreich wird der Islam jedoch nicht als außergesellschaftliche Erscheinung betrachtet.

Nikola Tietze betrachtet den Islam in erster Linie als „Ressource der Subjektivierung, weil er Begriffe, Erklärungen, Praktiken, Strukturen und Bilder anbietet, die in bestimmten Situationen Sinn produzieren“. Freilich werden die religiösen Inhalte ihrer Auffassung nach den eigenen Bedürfnissen untergeordnet. So entstehen schließlich Kategorien, welche die soziale in eigene Erfahrung übersetzen. In Deutschland hat Tietze Jugendliche im Hamburger „Problemstadtteil“ Wilhelmsburg interviewt, die Mitglieder der islamischen „Mili Görüs“ sind. Bei dieser Organisation handelt es sich, so Seidel/Dantschke/Yildirim, um „Rechte im europäischen Sinne, die sich im Weltbild irgendwo zwischen DVU, der FPÖ des Österreichers Jörg Haider und dem rechten Flügel der CSU bewegen“ .Das klingt wenig verlockend, doch wie Tietze in ihren Gesprächen feststellen konnte, spielt die politisch-ideologische Ausrichtung des Vereins für die jungen Männer praktisch nur eine geringe Rolle – sie benutzen ihn als eine Art Infrastruktur für die Entwicklung ihrer Subjektivität. Zudem ist der Islam auf organisatorischer Ebene ebenso vielfältig und uneinheitlich wie die individuellen Verarbeitungsformen der Religiosität.

Vier solcher Formen unterscheidet Tietze. Wenn der Islam eine Art praktischer Handlungsanweisung wird, spricht sie von Ethisierung: Gerade für Jugendliche in einer prekären sozialen Situation schafft die Religion räumliche und zeitliche Fixpunkte, unterscheidet zwischen Gut und Böse. So kann sich aus der Religion auch ein Moralkatalog für die Planung einer Karriere entwickeln. Darüber hinaus vermittelt der Islam auch eine Möglichkeit, zwischen kulturellen Zuschreibungen und Gleichheitsansprüchen zu vermitteln. Zum einen bietet die Religion einen Bezug jenseits von Nationalität und zum anderen erlaubt das Bekenntnis zum Islam, sich mit den als Christen wahrgenommen Einheimischen gleichberechtigt zu fühlen. Von dieser Ethisierung unterscheidet sich die ideologisierte Religiosität: Hier wird der Islam bloß als soziales und politisches Denken aufgefasst. Bei der Utopisierung wiederum gilt die Religion als eine von der sozialen Welt unterschiedene und unumstößlich-universelle Wahrheit. Mit Kulturalisierung schließlich bezeichnet Tietze eine gewohnheitsmäßige Verrichtung des Glaubens, die von einer gegebenen kulturellen Praxis bestimmt wird. Auch die beiden letzten Formen bieten individuelle Handlungsmöglichkeiten, bergen aber auch Gefahren: Es droht ein Verlust der Autonomie durch Selbstaufgabe oder Abkapselung.

Letztlich kann man gar nicht oft genug betonen, wie verdienstvoll es von Tietze ist, ihren Blick auf die Subjektivität der jungen Männer zu richten. Tatsächlich sind die jungen Muslime ebenso von der Individualisierung betroffen wie die Einheimischen auch. Nur findet ihre Lebensgestaltung in einem komplizierteren Kontext statt: durch die Ausgrenzung in der deutschen oder französischen Gesellschaft, die Gewalt einheimischer Zuschreibungen und eben auch die Angebote religiöser Organisationen, die bereits „hybride“ Ergebnisse einer Spirale des Austausches mit dem Einwanderungsland sind. Dies zu begreifen, wäre ein guter Ausgangspunkt, um jene Trennung zwischen „uns“ und „ihnen“ aufzuheben und gemeinsam die Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft anzunehmen.

MARK TERKESSIDIS

Nikola Tietze: „Islamische Identitäten. Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich“, aus dem Französischen von Ilse Utz. 400 Seiten, Hamburger Edition, Hamburg 2001, 58 DM (ab dem 1. 1. 2002: 30€)