The Blair Ambition Tour

Schaustücke für das dritte Jahrtausend: Die Tate modern in London unterrichtet über die italienische „Arte Povera“-Bewegung der Sechzigerjahre. Und das „Albert & Victoria Museum“ informiert die Briten jetzt darüber, dass sie schon als Viktorianer modern waren. Ein Rundgang kurz vor den Wahlen

von BRIGITTE WERNEBURG

I.

Die Tate modern wird von Besuchern förmlich überrannt. Seit ihrer Eröffnung im Mai 2000 haben über fünf Millionen Leute die Sammlung moderner Kunst gesehen. Das heißt, in den sieben Stockwerken, die dem ehemaligen Ölkraftwerk mittels einer tonnenschweren Stahlkonstruktion einverleibt wurden, und in der grandiosen Turbinenhalle, die alles überbietet, was zuletzt an Passagen gebaut wurde, sind täglich etwa 16.000 Freunde zeitgenössischer Kunst unterwegs. Der Backsteinkoloss, anders als das ebenfalls außerordentlich populäre Centre Pompidou in Paris, schluckt diese Massen mühelos. Nur die von Norman Foster entworfene Fußgängerbrücke reagiert auf Menschen allergisch und beginnt zu schwanken. Seit Juni letzten Jahres sollte sie die Bankside Powerstation mitten ins Herz der Metropole holen, indem sie den Bogen von der St.-Pauls-Kathedrale zum Southwark-Viertel schlägt, wo das Kunst-Kraftwerk Tate modern liegt.

Der Einbau von Stoßdämpfern soll nun die Brücke retten. Doch das zieht sich offensichtlich hin. Dass die ästhetisch höchst anmutige Konstruktion noch immer nicht begehbar ist, scheint symptomatisch. Die Brücke gehört zum Projekt Millennium Mile, heißt deshalb „Millennium Bridge“ und wer erinnert sich da nicht sofort an den Millennium Dome? Obwohl die Idee für das Monstrum von den Tories stammte, machte sie sich Tony Blair nach seinem Wahlsieg 1997 sofort zu Eigen und erklärte die Kuppel zum „Schaustück für New Labours Vision von Britannien im dritten Jahrtausend“. Diese Vision entpuppte sich allerdings als totaler Flop. Mittlerweile wurde der Dome an einen Bauunternehmer verscherbelt, der großzügige Parteispenden verteilte. Es wäre mehr Geld aus dem Verkauf zu holen gewesen, deshalb hat die Finanzbehörde eine Untersuchung eingeleitet.

Die Wegstrecke, die Tony Blair auf seiner Millennium Mile zurücklegte, ist eher kurz geraten. Doch seine „Ambitions for Britain“ sind nach wie vor ungebrochen. Man übersetzt das Wahlprogramm 2001 der Labour-Partei natürlich sofort in „The Blair Ambition Tour“ – entsprechend Madonnas Welttournee in den 90er-Jahren, „The Blonde Ambition Tour“. Blairs Ambitionen werden in Erfüllung gehen. Bei den morgigen Parlamentswahlen wird er wohl wieder gewählt werden.

II.

Die temporäre Ausstellung, die vergangene Woche in der vierten Etage des Backsteinpalastes am linken Ufer der Themse eröffnete, heißt „Zero to Infinity: Arte Povera 1962–1972“. Von der Tate modern zusammen mit dem Walker Art Center in Minneapolis organisiert, zeigt die Schau die Arbeiten von vierzehn Künstlern, die der neuen und radikalen Kunstbewegung im Italien der 60er-Jahre zugerechnet werden. Zum ersten Mal übrigens auf dem „englischen Kontinent“ – zu dem die Britischen Inseln in der deutschen Presseerklärung der Tate mächtig vergrößert werden. Es scheint nicht ohne ironischen Hintersinn in der aktuellen Situation, dass ausgerechnet jetzt eine Kunst vorgestellt wird, die im Kontext des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit entstand und die zu den Studenten- und Arbeiterstreiks von 1968 überleitete. Programmatisch gegen die Malerei gerichtet, suchten Künstler wie Alighiero e Boetti, Luciano Fabro, Jannis Kounellis, Mario Merz, Marisa Merz oder Emilio Prini eine radikale Neudefinition der Skulptur.

Dass der junge Kurator und Kunstkritiker Germano Celant die Bewegung 1967 als „Arte Povera“, also als „arme Kunst“, bezeichnete, lag nicht nur an dem Umstand, dass die Künstler für ihre Installationen schäbige, dreckige Materialien wie Plastik, Bauholz oder Kohle verwendeten. Es lag auch an ihrer linken politischen Einstellung. Begriffe wie Gerechtigkeit oder Gleichheit waren damals geläufiger Wortschatz.

Tony Blair sucht solche Worte zu vermeiden. Er spricht im Wahlkampf lieber davon, den Leuten Gelegenheiten und Chancen, „opportunities“, zu geben. Die Leute meint arme Leute. Die besuchen die Tate modern sicher nicht, auch wenn der Eintritt frei ist. Es sind die Normalverdiener, die Angestellten, Lehrer, Ärzte des Gesundheitsdienstes, junge Leute in der Ausbildung, die kommen. Sie kostet es eine Wechselausstellungen wie „Arte Povera“ zu besuchen freilich sechs Pfund fünfzig, rund zwanzig Mark. Vielleicht nicht über die „arme Kunst“, bestimmt aber über die „Kunst des Armseins“ könnten diese Normalverdiener, die in London leben und für eine kleine Wohnung Mieten bis zu 3.000 Mark zahlen müssen, Auskunft geben. Auch sie brauchen Chancen und Opportunities. Zum Beispiel auf den Besuch guter Schulen und Universitäten, auf eine anständige medizinische Versorgung.

III.

Die Installationen der „Arte Povera“-Künstler wirken überhaupt nicht museal oder muffig. Im Gegenteil haben ihnen die vergangenen dreißig Jahre so gut wie nicht zugesetzt. Sie schauen erstaunlich frisch aus, und der Weg zu Damien Hirsts halben Kühen in Formaldehyd scheint nur ein Katzensprung.

Muss man Hirst eigentlich prophetische Gaben zu sprechen, hinsichtlich seiner künstlerischen Kuhseuche? Auch wenige Tage vor dem Wahltag werden wieder sechs neue Fälle von Maul- und Klauenseuche gemeldet. Mehr als drei Millionen Tiere wurden verbrannt, seitdem die Krankheit ausbrach. Ein Wahlkampfthema ist die Landwirtschaftskatastrophe in England dennoch nicht. Weder beim Premier noch bei seinem Herausforderer William Hague.

Das Thema des Wahlkampfes ist eigentlich die Wiederentdeckung des Sozialstaates. Es geht um Bildung, Sozialprogramme, das Gesundheitswesen, den öffentlichen Dienst. Es gibt ein neues Tabu in diesem Wahlkampf, haben die politischen Beobachter aufgrund von Umfragen festgestellt: War es vor vier Jahren angebracht, von Steuersenkung zu sprechen, so ist das heute vollkommen inopportun. Heute verlangen die Wähler definitiv höhere Ausgaben für den öffentlichen Bereich, während sie Steuersenkungen ablehnen.

New Labour darf wieder ein bisschen Labour werden. Nachdem die Arbeiterpartei vor vier Jahren beweisen musste, dass sie die Wirtschaft nicht ruinierte, dass sie unternehmerfreundlich war und dass sie den Reichen nicht zu sehr ans Portemonnaie ging, muss sie jetzt zusehen, dass sie einen modernen Wohlfahrtsstaat finanziert. Es lässt ja doch tief blicken, wenn in Labours „Ambitions for Britain“-Programm steht, es müsse bis 2005 möglich sein, dass zwischen der Krebsdiagnose und dem Beginn der Krebsbehandlung höchstens ein Monat Wartezeit liegt. Freilich: Labour muss auch New Labour bleiben; die Reform des Bildungs- und Gesundheitswesen will vorangebracht werden. Der bürokratische Apparat, auf Druck der Gewerkschaften entstanden, ist immer noch gewaltig. Der Kampf um Effizienz soll vor Privatisierung nicht Halt machen. Allerdings werden sich da die üblichen Verdächtigen noch zu Wort melden: die National Union of Teachers, der British Medical Association oder Unison (The Public Service Union).

IV.

Dass der Begriff „neu“ für die Briten noch immer Charme hat, zeigt sich an anderer Stelle. 2001 ist nicht nur das Jahr der Parlamentswahlen, sondern auch das Jahr des hundertsten Todestages von Königin Victoria. In dem nach ihr und ihrem Prinzgemahl benannten Albert & Victoria Museum wurde zu diesem Jahrestag eine Ausstellung eingerichtet, die mit einem derart flotten Titel daherkommt, dass man meinen möchte, die Wahlkampfstrategen von New Labour hätten ihn entworfen: „Inventing New Britain: The Victorian Vision“. Tatsächlich scheint ein Modernisierungs-Missverständnis jüngerer Art die Anlage der Schau zu bestimmen. Denn der Ehrgeiz der Kuratoren ist es, zu zeigen, dass auch und schon die Viktorianer moderne Menschen des technischen Zeitalters waren.

Dieser Ehrgeiz mutet jemanden, der vom Kontinent, also aus der Barbarei, kommt und daher die Erfinder des Water Closet schon immer für die Avantgarde menschlicher Zivilisation hielt, merkwürdig an. Von wem, wenn nicht von den Viktorianern, sollen die technischen und kulturellen Errungenschaften der modernen Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts stammen? Dass das Land am Ende des 20. Jahrhunderts meint, hier aufholen zu müssen, führt offenbar dazu, dass es sich jetzt mit Hilfe eines Spin-Doctor-Slogans wie New Britain daran erinnern muss, dass es einmal führend war.

Mit den „Opportunities“ für breite Schichten der Bevölkerung sah es damals freilich nicht gut aus, was die Schau aber nicht weiter thematisiert. In dieser Hinsicht bleibt das Neue Britannien noch immer zu erfinden. Der viel belächelte Versuch eines „dritten Wegs“ hat in der oben wie unten gepflegten Tradition der Klassengesellschaft seinen Grund. Kontinental und ketzerisch gesprochen: Bevor nicht sämtliche Privatschulen untersagt werden, wird es kein Neues Britannien geben. Tony Blair freilich plant es genau anders herum: Lokale Bildungseinrichtungen und einzelne Schulen sollen privatisiert werden, wenn sie ihre Aufgaben nur ungenügend erfüllen.