Jedes dunkle Körperhärchen

Patrice Chéreaus Berlinale-Gewinner „Intimacy“ erregte bereits Aufmerksamkeit wegen seiner freizügigen Sexszenen. Erzählt der Film eine moderne Amour fou zwischen Lust und Gefühlsangst? Oder ist er ein Konglomerat aus kunstbeflissener Pornografie und Großstadtpoesie? Ein Pro und Contra

PRO

Intimität auf der Kinoleinwand ist eine heikle Sache. Vertraute zeigen sich ihr Einverständnis in einer eigenen Körpersprache, die aber wirkt schnell monströs auf das Publikum. Reden wir nicht von pornografischen Reiz-/Reaktionsspielchen, reden wir von den Filmen, die an der explosiven Mischung aus Instinkt, Gefühl und Konvention in intimen Beziehungen interessiert sind.

„Intimacy“ erzählt eine amour fou. Das Modell, von dieser existenziellen Gewitterzone zu erzählen, ist bekannt: Ein Paar zieht sich in seine Leidenschaft zurück und stößt gerade durch diesen lustvollen Pakt an gesellschaftliche Normen und nicht zuletzt an die Grenzen radikaler Erfahrung. Vor dreißig Jahren träumte sich Bernardo Bertolucci, die „sexual politics“ der Nach-68er-Ära im Kopf, in sein Paar aus „Der letzte Tango in Paris“ hinein. Da verführte ein veritabler Kino-Pate, Marlon Brando, als kaputter, ältlicher Amerikaner in Paris die Neu-Entdeckung Maria Schneider zu heimlichen Treffen in einer leergeräumten Wohnung. Brando wird der aggressive, obszöne Lehrmeister des bourgeoisen jungen Mädchens. Ein paar Jahre vor dem „Letzten Tango“ drehte ein anderer intellektueller Italiener, Michelangelo Antonioni, im coolen Ambiente der Londoner Sixties seinen Film „Blow Up“. Angesichts der Faszination für das Bildermachen und auf der vergeblichen Suche nach Wirklichkeit in dieser technisch-ästhetischen Welt war die amour fou abhanden gekommen. „Intimacy“ ist mit beiden Filmen verwandt, zeigt aber, wie sich seit damals die Kräfteverhältnisse zwischen weiblichen und männlichen Rollen verändert haben.

An „Intimacy“ schockiert auf den ersten Blick, dass die Dramaturgie, mit der wir üblicherweise auf die intime Heftigkeit von Sexszenen vorbereitet werden, radikal abgekürzt erscheint. Kein Kennenlernen, kein Smalltalk, keine gemeinsamen Wege führen zum unabdingbar wichtigen heimlichen Treff. Die Frau reißt den Mann aus dem Schlaf, betritt sein Haus fast wie eine Sozialamtsbeamtin auf Inspektion. „War das abgemacht?“, lautet der erste Satz. Die Wucht, die eine Beziehung prägt, in der die Frau den Mann mit ihrer Lust überrascht, zieht einen mit der ersten Szene in den Film hinein.

Der Ort ist dem luxurierenden Ambiente des „Letzten Tangos“ absolut konträr: das Souterrain eines heruntergekommenen Reihenhauses, eine gelbe Decke zwischen Sperrmüll und CD-Boxen. Die Haut erscheint in diesem Low-Key-Licht bläulich, jedes dunkle Körperhärchen wird zur schwarzen Gravur. Vom ersten Moment an ist klar, dass die Heftigkeit, mit der das Paar übereinander herfällt, etwas Verzweifeltes hat. Intimität ist nicht die frivole Überwältigung einer Unschuldigen, hier treffen zwei gleich Hungrige zusammen, ohne die Geschichte des anderen zu kennen. Davon, wie aus dem instinktiven Verlangen Gefühl entsteht, Sehnsucht nach Dauer, erzählt „Intimacy“. Die Verfolgungstouren zu Fuß, per Bus oder Bahn, begleitet vom Londoner Straßengetöse und treibender Drum-’n’-Bass-Rhythmik, mit denen das stumme Paar erkundet, was der eine über die andere weiß, sind grandiose Handkamera-Passagen. Die Geilheit ist kein gespieltes Als-Ob, die Kadrierung mogelt den Penis nicht aus der Welt, aber jede der Sexszenen erzählt ein neues Detail darüber, wie sich die Körper kennen lernen. Vom ersten Moment an ist Thema, dass die beiden ihre Hektik, ihre Verletzungen außerhalb dieses Hier und Jetzt mit sich schleifen. Sex ist keine romantische Gegenwelt, sondern das Feld, auf dem die Persönlichkeiten sich offenbaren.

Das Buch (Patrice Chereau und Anne-Louise Trividic), auf Short-Story-Figuren von Hanif Kureishi basierend, zeigt eine Welt zwischen Trash und Mittelklasse, Leute um die vierzig, die – das ist selten in amour fou-Geschichten – Kinder haben und denen der erlebte oder noch drohende Verlust stabiler Verhältnisse Furchen ins Gesicht gräbt. Jay ist ein abgestürzter Familienvater, stellt sich in den Rückblenden heraus, einer, der als Ehemann nicht mehr attraktiv war und Haus und Kinder über Nacht verließ, einer, der mit Kindern zart umgeht, als fühle er sich bei ihnen am wenigsten bedroht. Die Männer in „Intimacy“: Quasi doppelt erscheint der Antiheld in der Figur eines Freundes, Losers und Ex-Familienvaters, der Jay mit verklemmter Anhänglichkeit verfolgt. Daneben als souveräner Kommentator ein schwuler Kollege aus Jays Bar, der dem irritierten Sucher rät, die amour fou als Spiel von Geben und Nehmen gelten zu lassen. Es hilft nichts: Jay dringt in das Leben der Geliebten ein, löst einen Wechsel der Perspektive aus, mit dem der Film aus ihrem Leben als erfolglose Schauspielerin und frustrierte Ehefrau erzählt. Wie das Unnennbare, das sie bei Jay sucht, und ihre Angst, Gefühle auszudrücken, sich gegenseitig bedingen, ist der Schlüssel zu „Intimacy“.

CLAUDIA LENSSEN

CONTRA

Noch vor ein paar Jahren reagierten die Staatsanwälte auf pornografische Szenen im Kino mit altmodisch-verklemmten Verboten. Heute scheint die Kritik mit anderen Reflexen letztlich genau der gleichen Verklemmtheit nachzueifern: Da saugt die Darstellerin eines Autorenfilms für Sekundenbruchteile am Schwanz ihres Partners, und die Berufsbetrachter verfallen während der Berlinale in einen Chor der Lobeshysterie. Man hätte meinen können, der Blowjob sei die eigentliche Leistung der britischen Schauspielerin Kerry Fox gewesen. Dass ausgerechnet ein Film, der mit Sexualität so wenig anfangen kann wie „Intimacy“ für seine Freizügigkeit besungen und zum Meisterwerk erklärt wird, zeigt, dass die Schlüsselreize immer noch funktionieren – mal als heilige, mal als verdammte Pornografie.

Schon lange nicht mehr wurde der Liebesakt im Kino so unausgegoren gefilmt wie von Patrice Chéreau, der sich in Interviews damit brüstet, es habe für die Kamera kein Konzept gegeben. Ray und Claire, die in seinem Film jeweils Mittwochsnachmittags wortlos übereinander herfallen, ohne den Namen des anderen zu kennen, geht es zunächst um die pure Lust am Sex. Das prätentiöse Schattenspiel der an Rodin erinnernden Körperlandschaften mit sorgsam sanft ausgeleuchteten Bauchhügeln und eine wie im Taumel der Leidenschaft umherkreisende Kamera umsorgen den Fick mit kunstbeflissenen Mitteln – es darf halt nur ein bisschen rau sein, mit der kleinen kalkulierten Dosis pornografischer roughness, die Bildungsbürgerseelen mit verwegenem Selbstverständnis als irgendwie hart und gefühlsecht empfinden. Blowjob ja! Aber bitte im malvenfarbenen Halbdunkel.

Mit Lars von Triers „Idioten“ oder auch „La vie de Jesus“ und „L’Humanité“ von Bruno Dumont gab es in den letzten Jahren durchaus Autorenfilme, die mit Großaufnahmen des Geschlechtsakts von der spezifischen Körperlichkeit ihrer Figuren erzählten. Bei Dumont als illusionsloses physisches Aufeinanderprallen zweier Menschen, die sich letzter Halt sind. Eben weil in diesen Filmen das pornografische Bild zum selbstverständlichen Medium der Darstellung von Befindlichkeiten wurde, kam in den Rezensionen das Wort Pornografie so gut wie nicht vor. Wenn das Pornografische in den Reaktionen auf „Intimacy“ von Anfang an in den Vordergrund gestellt wurde, dann vielleicht weil es für sich steht, letztlich nichts über die Figuren oder die Art ihrer Begegnung sagt und eben nicht selbstverständlicher Teil des Films ist.

Zieht man die halbe Stunde Sexszenen ab, dann besteht „Intimacy“ vor allem aus einer geballten Ladung Überblendungen, Küchenphilosophie und sentimentalen Klischees. Zum Beispiel dem des beziehungswunden Großstadtcowboys. Dass Ray (Mark Rylance) ein einsamer Wolf ist, verrät nicht nur die abgebrühte Barkeeperattitüde. Vom sehnsüchtigen Kern unter der stoppelharten Schale erzählen auch die vielen Zigaretten, eine notorisch unaufgeräumte Wohnung und das in elegischen Rückblenden glockenhell ertönende Lachen seiner beiden Kinder. „Papa, ich liebe alle Menschen“, sagt Rays Sohn in einer dieser Szenen aus glücklichen Ehetagen. „Du bist außerstande, zu lieben“, sagt wiederum Rays Kollege, ein warmherziges schwules Orakel, das die Menschen intuitiv versteht.

Nach dem puren Sex kommt das Gefühl, kommt die Neugier, kommt die Liebe, und von der, so die zentrale Weisheit von „Intimacy“, können wir alle gar nicht genug kriegen. Dass das Drehbuch die Liebesbedürftigkeit der Figuren immer wieder ausdrücklich in verschiedenen Formen der Repräsentation verhandelt, macht „Intimacy“ auch inhaltlich zu einem durchschaubaren Stück Kunstgewerbe. Wenn Ray der unbekannten Namenlosen nach dem Sex zum ersten Mal in ihr anderes Leben folgt, landet er in einer Laientheateraufführung, in der sie prompt eine liebeshungrige Tennessee-Williams-Gestalt spielt. Claire, die auch Theaterunterricht gibt, wird erst bei einer gespielten Umarmung ihrer Schüler klar, dass sie sich in Ray verliebt hat, und überhaupt macht ja im Leben jeder ständig den anderen und sich selbst etwas vor.

Marianne Faithful ist die einzige Figur, der man anmerkt, dass sie mehr erlebt hat, als Chéreaus Film zu erzählen imstande ist. Mehr als versonnene Glückskeks-Sprüche darf sie als Claires Busenfreundin trotzdem nicht von sich geben. Es ist diese aufgesetzte Großstadtpoesie der einsamen Seelen mit ihren alkoholgeschwängerten Weltschmerzsentenzen, die Chéreaus Film seine sentimentalische Attitüde verleiht. Da wird im Rückblick der melancholisch ins Bild kippende Schwanz sogar noch zum Zeichen einer existenziellen Einsamkeit.

KATJA NICODEMUS