Der Täter geht

Wenn Männer in ihrer Familie gewalttätig werden, bleibt ihren Frauen oft nur die Flucht ins Frauenhaus. In Baden-Württemberg wird nun ein Versuchsprojekt ausgewertet, wie es auch anders gehen kann – nämlich mit einem polizeilichen Platzverweis für den Mann

von ULRIKE BAUREITHEL

In der Wohnung nebenan kracht es, eine Frau schreit laut auf, ein Kind heult. Die Nachbarn sind das gewohnt, „Meiers, mal wieder“, seufzen sie, der Krach geht schon seit Stunden. Wenn es zu schlimm wird, kommt die Polizei. Sie nimmt den stark angetrunkenen Ehemann in Gewahrsam, für einige Stunden, bis er wieder nüchtern ist und in die Wohnung zurückkehrt. Das ist der Augenblick, vor dem sich Frau Meier fürchtet, denn sie weiß, der Kreislauf beginnt nun von vorne. Wenn sie es gar nicht mehr aushält, zieht sie mit der siebenjährigen Tochter für einige Tage ins Frauenhaus. Doch das Kind muss in die Schule am anderen Ende der Stadt, und wenn Frau Meier irgendwann in die eheliche Wohnung zurückkehrt, bleibt ihr erst einmal, den Müll ihres randalierenden Gatten zu beseitigen.

Drei von vier Einsätzen der Polizei gelten derartigen Hausstreitigkeiten, und meist geht es dabei um Gewalt gegen Frauen und Kinder. Immer wieder beklagen die Vollzugsbeamten ihre Ohnmacht, denn das oben geschilderte Szenario ist typisch: Sie versuchen zu schlichten oder nehmen den Mann für kurze Zeit in Gewahrsam; die rechtlichen Möglichkeiten der Polizei sind bislang begrenzt, denn das Gewaltschutzgesetz, das den zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten regelt, wird seit Jahren debattiert und liegt derzeit zur Beratung beim Bundestag. Vor Januar 2002 wird es kaum in Kraft treten, und dann sind da immer noch die Länder, die ihre Polizeigesetze ändern und Ausführungsbestimmungen erlassen müssen.

So lange wollte man in Baden-Württemberg nicht warten. Seit Juni 2000 geht man dort einen eigenen Weg: Gewalttäter, die ihre Frauen und Kinder im häuslichen Bereich bedrohen oder misshandeln, werden mit einem so genannten Platzverweis bestraft, je nach Gefährdungssituation wird ihnen auch verboten, sich der Wohnung zu nähern. Die rechtliche Grundlage ist die so genannte Generalklausel des baden-württembergischen Polizeigesetzes (§ 1 Absatz 1,3), das im Unterschied zu anderen Ländergesetzen keine Spezifizierung des Platzverweises beinhaltet.

Nach dem Vorbild des österreichischen Wegweisrechtes wird in einem auf ein Jahr angelegten Modellprojekt in 83 (von 111) baden-württembergischen Gemeinden, die sich dem Projekt angeschlossen haben, erprobt, wie Frauen und Kinder erfolgreicher als bislang vor häuslicher Gewalt geschützt werden können. Vom österreichischen Modell war die für Frauenbelange zuständige Staatssekretärin Johanna Lichy offenbar so beeindruckt, „dass wir“, wie Ministerialrätin Christiane Hug-von-Lieven im Stuttgarter Sozialministerium formuliert, „nicht lange debattieren, sondern einfach praktisch etwas unternehmen wollten“.

Im oben skizzierten Fall etwa hätte die Polizei Herrn Meier in Form einer offiziellen Schutzanordnung einen Platzverweis erteilt und ihm möglicherweise sogar untersagt, sich der Wohnung zu nähern – dann nämlich, wenn die Gefahr besteht, dass er Frau und Kind im häuslichen Umkreis belästigt. Der Platzverweis, der mündlich und schriftlich erfolgt, beinhaltet auf jeden Fall die Herausgabe der Wohnungsschlüssel. In der Regel wird ein Platzverweis für sieben Tage ausgesprochen, in manchen Kommunen wie etwa in Heidelberg für zehn Tage: Innerhalb dieser Frist, so der im Heidelberger Ordnungsamt zuständige Uwe Nägele, können sich die Frauen überlegen, wie sie weiter vorgehen wollen, ob sie gerichtlichen Schutz beantragen, sich von ihrem Partner trennen oder eine Beratung in Anspruch nehmen wollen. Unter Umständen können der Platzverweis und das Näherungsverbot durch einen gerichtlichen Beschluss verlängert werden.

Die neue baden-württembergische Praxis folgt dem Prinzip „Das Opfer bleibt, der Täter geht“. Frauen und Kinder sollen nicht länger gezwungen werden, ins Frauenhaus zu flüchten, sondern der Täter wird vor die Türe gewiesen. „Bislang“, so Frauenministerin Christine Bergman in einem Interview der Wochenzeitung Freitag, „war es auch schon so, dass Frauen zivilrechtlich die Wohnungszuweisung einklagen konnten. Doch das zog sich oftmals endlos hin, und wir wissen alle, was in einer Gewaltsituation passiert, wenn nicht sofort gehandelt werden kann. Der einzige wirksame Schutz vor Gewalttätern ist zu sagen: ‚Du verschwindest hier, du hast in diesem Umfeld nichts mehr zu suchen.‘“

Die Ministerin verspricht sich von dieser Praxis nicht nur einen heilsamen Lernprozess bei den Tätern, sondern will damit auch ein Zeichen in der Öffentlichkeit setzen: Wenn Arbeitgeber oder Freunde mitbekommen, dass ein Mann die gemeinsame Wohnung nicht mehr betreten darf, weil er Frau und Kinder schlägt, ist das peinlich und signalisiert, dass häusliche Gewalt eben kein Kavaliersdelikt ist und Konsequenzen hat.

Eine wichtige Voraussetzung für die Maßnahme, darin sind sich alle Beteiligten einig, ist die Zustimmung der betroffenen Frau. „Wenn eine Frau am nächsten Tag auf die Polizeistation kommt und ihren Mann wiederhaben will“, so die Erfahrung von Elfriede Hermann, die für die Koordination des Modellprojekts in Esslingen und Filderstadt zuständig ist, „dann hat ein Platzverweis keinen Sinn.“ In sehr vielen Fällen wird die Maßnahme von den Frauen jedoch begrüßt, weil sie in der aktuellen Konfliktsituation Erleichterung schafft: „Den Frauen“, so der Leiter der Führungsgruppe Revierdienst im Rhein-Neckar-Kreis, Volker Pfeifer, „wird die Angst genommen, dass Täter nach einigen Stunden Ingewahrsamnahme wieder auftauchen.“

Von Gemeinde zu Gemeinde ist die Häufigkeit des ausgesprochenen Platzverweises unterschiedlich: In Karlsruhe zum Beispiel, so Tina Weiler vom dortigen Polizeipräsidium, sind im ersten Dreivierteljahr 103 Platzverweise für sieben Tage ausgesprochen worden, von denen ein Drittel an die Behörden weitergeleitet wurden: In diesen Fällen – etwa wenn Kinder betroffen sind – schalten sich automatisch die sozialen Dienste ein; in Stutensee, einer kleinen, nördlich von Karlsruhe gelegenen Gemeinde, waren es fünf Fälle.

Im Heidelberger Stadtkreis registrierte Uwe Nägele zwölf Fälle, in denen ein zehntägiger Platzverweis ausgesprochen wurde; in fünf Fällen wurde er noch einmal verlängert. Im Landkreis Heidelberg, so Volker Pfeifer, wurden im gleichen Zeitraum 119 Fälle häusliche Gewalt aktenkundig, bei denen 62 Platzverweise ausgesprochen und 37 Ingewahrsamnahmen veranlasst wurden. In zwei Fällen wurden die Täter sofort in Haft genommen, in fünf Fällen in die Psychiatrie eingewiesen. Im Landkreis Esslingen wurden 24 Platzverweise ausgesprochen, in Filderstadt waren es sieben.

In der Regel zeigen sich die Männer von einem ausgesprochenen Platzverweis beeindruckt, es soll sogar einen Fall gegeben haben, wo sich ein Mann im Nachhinein für den Platzverweis bedankte, weil ihn das zum Umdenken brachte. Nicht immer allerdings packen die Männer ohne Widerstand ihre Koffer, wie Tina Weiler aus der Praxis weiß; auch in Heidelberg sind jedoch nur wenige Fälle bekannt, wo Männer der Polizeiverfügung nicht Folge leisteten: In einem Fall, wo der Mann der Verfügung nicht nachkam, wurde dessen Ingewahrsamnahme durch einen Richter angeordnet. In Filderstadt, so Herrmann, gab es wiederum etliche Fälle, wo Männer Widerstand leisteten, insbesondere wenn es sich um betrunkene Täter handelte.

Durch die Presse ging der Fall eines Karlsruher Täters, der vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe die polizeiliche Verfügung anfocht. Im Februar dieses Jahres wurde der Platzverweis für rechtens erklärt: Die Richter erklärten die Maßnahme für erforderlich, um die körperliche Unversehrtheit der Frau und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten (Az. 12 K 206/01).

Die Funktion des Platzverweises ist es, eine akute Gewaltsituation zu deeskalieren und Frauen konkrete Unterstützung zu geben. Volker Pfeifer und seine Kollegen halten den Platzverweis in diesem Sinne für „ein probates Mittel der Krisenintervention“. „Die Frauen“, so auch die Erfahrung der Karlsruher Frauenbeauftragten Niesyto, „sehen darin eine produktive Unterbrechung der Gewaltspirale.“ Der Platzverweis führe in der Hälfte der Fälle zu zivilrechtlichen Klagen oder zur Trennung vom Partner. Kein einziger Fall, so Niesyto weiter, sei bislang bekannt, wo Frauen nach einem Platzverweis zum zweiten Mal die Polizei geholt hätten.

Vielleicht haben sich die Paare tatsächlich „zusammengerauft“, wie Tina Weiler meint, vielleicht scheuten sich die betroffenen Frauen auch einfach, ihren Mann ein zweites Mal dieser „Blamage“ auszusetzen.

Auffällig ist jedenfalls, dass es eher Familien aus sozial benachteiligten Schichten sind, zu denen die Polizei gerufen wird. „Wenn Frau Doktor eins aufs Auge bekommt“, so resümiert Weiler, „zieht sie halt eine dunkle Brille an, und wir erfahren nichts davon.“

Und was passiert mit den vor die Türe gewiesenen Männern? Teilweise bieten die Gemeinden Unterbringungsmöglichkeiten an, doch sie werden von den Tätern so gut wie nie nachgefragt: „Die schlafen im Auto oder bei der Mama“, so die übereinstimmende Erfahrung. Wichtig, so Tina Weiler stellvertretend für viele Kollegen in Baden-Württemberg, sei die Schulung der Vollzugsbeamten, die in der jeweiligen Situation imstande sein müssen, eine „Gefahrenprognose“ zu stellen und entsprechend zu handeln. Sinnvoll scheint auch die Heidelberger Praxis zu sein, gefährdeten Frauen leihweise ein Notrufhandy an die Hand zu geben.

„Bevor man in einer Gemeinde mit einem solchen Projekt beginnt“, rät Niesyto, „sollten alle beteiligten Stellen kooperieren und sich miteinander abstimmen.“ Eine Dauerlösung ist der Platzverweis nämlich nicht: Die Frauen müssen in ihrer konkreten Situation beraten und über Lösungsmöglichkeiten informiert werden.

Und auch die Täter sollten gefordert werden: in sozialen Trainingskursen zum Beispiel, die sie mit ihrer eigenen Gewaltbereitschaft konfrontieren. Ein Fehlschluss wäre es jedenfalls, den disziplinarischen „Platzverweis“ als kostenneutrale Lösung für „häusliche Gewalt“ einsetzen zu wollen. Die Erfahrungen des baden-württembergischen Modellprojekts werden nach seinem Abschluss in Form von Fragebögen erfasst und ausgewertet.

ULRIKE BAUREITHEL, 43, lebt als freie Journalistin in Berlin