Der Unerklärliche

Das sozialistische Kuba ist vor zehn Jahren totgesagt worden. Aber das Phänomen Castro war und ist nicht in den Griff zu kriegen. Warum? Am Ende hilft zur Erklärung eine ganz einfache Formel

von TONI KEPPELER

„Fidel ist ein schwieriger Charakter. Alle, die ihn kennen, lieben und hassen ihn gleichzeitig. Wenn er tot ist, werde ich sehr einsam sein.“ Marita Lorenz

Sachbuchautoren geht es bisweilen wie verschmähten Liebhabern: Sie haben das Objekt ihrer Begierde ständig im Sinn. Aber so richtig fassen können sie es nicht. Volker Skierka, ehemals Lateinamerikakorrespondent der Süddeutschen Zeitung und dann Chefredakteur von Merian, hat diese Erfahrung gemacht. Er hat ein dickes Buch mit dem Titel „Fidel Castro“ geschrieben, konnte aber nie mit dem máximo líder sprechen. So ist eine gescheite Geschichte der kubanischen Revolution daraus geworden, aus der die Hauptperson über lange Passagen gänzlich verschwindet. Stünde da nicht auch ein Kapitel mit Geschichten aus der Kindheit und Jugend Fidels, wäre der Untertitel „Eine Biografie“ vollends nicht mehr zu rechtfertigen gewesen.

Auch Marita Lorenz hat ein Buch geschrieben, eine Autobiografie. Auch darin geht es fast nur um Castro: „Lieber Fidel – Mein Leben, meine Liebe, mein Verrat“. Es ist eine gelungene Synthese aus Loreroman und Agententhriller, und ab und zu blitzt auch ein bisschen historische Wahrheit daraus hervor. Auch sie hat den Comandante nicht in den Griff gekriegt. Seit mehr als vierzig Jahren ist sie in ihn verknallt. Als sie seine Geliebte war, hat er ihr nur ein paar schwüle kubanische Nächte geschenkt. Als Agentin des US-Geheimdienstes CIA schaffte sie es nicht, ihm den Todestrunk zu mixen. Castro, so scheint es, entgleitet allen.

In Kuba weiß man das. Bis heute gibt es dort keine Biografie des Präsidenten auf Lebenszeit. Man wartet ab, bis er tot ist. Oder auch ein paar Jahre länger, um erst einmal zu sehen, was dann aus seiner Revolution wird. Insofern ist es beinahe ein Wagnis, schon jetzt eine Biografie zu schreiben.

Rein marktstrategisch ist der Zeitpunkt günstig. Die Jahrestage häufen sich. Vierzig Jahre Schweinebuchtinvasion in diesem Frühjahr, vierzig Jahre Kubakrise im Herbst des nächsten Jahres. Und nicht zu vergessen: Am kommenden 13. August wird Fidel 75. Immer werden die Zeitungen voll von ihm sein, und immer bietet sich der Skierka-Wälzer als vertiefende Literatur und das Lorenz-Buch zur weiterführenden Unterhaltung an.

Die meisten Journalisten, Historiker, Politologen oder Politiker, die aus Anlass dieser Daten etwas zu schreiben haben, werden sich einer endgültigen Bewertung des Phänomens Castro enthalten. Denn sie haben sich schon einmal getäuscht. Damals, 1990, beim Zusammenbruch des Ostblocks. Wer wollte da nicht alles den máximo líder in den Orkus der Geschichte schreiben! Er lebt und herrscht jedoch noch immer. Auch Skierka ist vorsichtig geworden. Er schreibt zwar zum Schluss ein ausblickendes Kapitel. Aber richtig festlegen will er sich nicht.

Allein Marita Lorenz stellt sich in ihrer naiven Altersverliebtheit auf die Seite des vermeintlichen Siegers. Nur das kann ihrer verkorksten Biografie noch einen Sinn geben. Denn abgesehen von den paar wilden Nächten mit einem noch jugendlichen Castro hat sie die meiste Zeit ihres Lebens auf der Seite der militanten Anticastristen gekämpft. Erst nachdem diese allesamt gescheitert oder tot sind, besinnt sie sich zurück auf ihre erste Jugendliebe.

Mit diesem verklärten Blick legt sie Castro einen Satz in den Mund, der so blöd ist, dass er nicht wahr sein kann: „My name is Dr. Castro, Fidel ... please ... I am Cuba.“ Das soll der Comandante gestammelt haben, als er am 27. Februar 1959 etwas tollpatschig auf das vor Havanna ankernde Kreuzfahrerschiff „Berlin“ kletterte. Und mit denselben Worten will die damals neunzehnjährige Marita den bärtigen Gast ihrem Vater, dem Kapitän der „Berlin“, vorgestellt haben: „Das ist Fidel. Er ist Kuba.“ In diesen sechs Worten liegt allerdings eine tiefe Wahrheit.

Ernsthafte Autoren schrecken vor derart schlichten Sätzen zurück. Zu Unrecht. Sie machen sich nur das Leben schwer. Sie müssen deklassifizierte Geheimpapiere der USA lesen, ebensolche aus der untergegangenen Sowjetunion und der verschwundenen DDR. Sie müssen Reden analysieren, Gesagtes und nicht Gesagtes interpretieren und letztlich können sie doch nicht so richtig erklären, warum Fidel erst sagte, er sei kein Kommunist, und dann doch der hartnäckigste von allen wurde. Warum er immer wieder eine Annäherung an die USA suchte, gar deren Währung adoptierte. Und trotzdem verdammt er sie gleichzeitig als das Reich des Bösen schlechthin.

Warum er eine schöne Revolution mit großen sozialen Taten begann und kurz darauf schon bereit war, alles in einem Atomkrieg aufs Spiel zu setzen. Warum ihm die Chinesen zeitweise lieber waren als die Russen, er dann aber doch bei den Russen blieb und heute schließlich mit beiden flirtet, mit Vladimir Putin und mit Jiang Zemin. Und dazu auch noch mit der alten Kolonialmacht Spanien, gegen die sein großes Vorbild José Martí vor über hundert Jahren gekämpft hatte. Warum er sich trotzdem gerne mit der rechten Regierung in Madrid zofft und gleichzeitig seine halbe Tourismusindustrie spanischen Kapitalisten verkauft, die sicher nicht besser sind als José María Aznar. Warum er die Kirche jahrzehntelang unterdrückt und dann ausgerechnet den reaktionären Papst Johannes Paul II. zu seinem besten Freund erklärt. Castro macht es einem nicht leicht.

Das unlösbarste aller Probleme scheint Fidel in Kuba zu sein. Das beste Erziehungssystem Lateinamerikas ist ihm nicht gut genug. Jeder Kubaner soll ein umfassend gebildeter Bürger sein – und trotzdem darf er nur die langweiligsten und regierungsfrömmsten Zeitungen der Welt lesen. Niemals zuvor war ein kubanischer Staat so stark. Castros Apparat stellt den des Diktators Batista weit in den Schatten. Fidel hätte heute als Guerillero keine Chance mehr gegen seinen Geheimdienst. Nie gab es eine perfektere Kontrolle.

Und trotzdem wird Castro von den allermeisten Kubanern geliebt. So sehr, dass sie seine stundenlangen Reden noch immer ertragen. Auch wenn sie manchmal langweilig sind bis an die Peinlichkeitsgrenze und der alternde Orator immer öfter den Faden verliert. Die Kubaner machen Witze darüber, sehr viele und sehr bösartige sogar. Und sie beschweren sich. Gerne und häufig. Vor allem über die miese Versorgungslage mit Lebensmitteln und Konsumgütern. Und trotzdem haben die wenigen Dissidenten in Kuba viel weniger Anhänger als im Ausland.

Es gibt ein paar gehässige Argumente, die all diese Widersprüche erklären sollen: Dass Castro wie ein Ertrinkender wirtschafts- und außenpolitisch nach allem greift, was ihn noch ein bisschen über Wasser hält. Und dass die Kubaner, wie alle Lateinamerikaner, Caudillos einfach mögen und sich ohnehin nicht zu sagen trauen, was sie eigentlich denken. Selbst ein kluger Mann wie Skierka kommt bisweilen gefährlich in die Nähe solcher Plattheiten. Dabei ist die alle Widersprüche in sich aufhebende Synthese ganz schlicht: „Das ist Fidel. Er ist Kuba.“

Man muss sich das vorstellen wie eine mathematische Gleichung: Fidel = Kuba. Von links nach rechts gelesen bedeutet sie: Fidel ist Kuba. Er hat von Anfang an und bis heute immer nur an Kuba gedacht. 1953 beim wahnwitzigen Sturm auf die Moncadakaserne genauso wie drei Jahre später, bei der ebenfalls wahnwitzigen Landung der „Granma“. Beim Aufbau des Gesundheits- und Erziehungswesens genauso wie beim Aufbau des staatlichen Sicherheitssystems. Bei der Adoption des Dollars wie beim Empfang für den Papst. Immer ging und geht es ihm um Kuba. Kuba soll Kuba sein, nicht irgend ein Anhängsel von irgendwem. Alles, was diesem Ziel nützt, ist Castro recht. Ideologien spielen eine untergeordnete Rolle.

Fidel Castro war nie ein dogmatischer Kommunist. Schon gar kein moskautreuer. Eher ist er eine Mischung aus Pragmatiker und Sponti. Und im tiefsten Grunde seines Herzens zuallererst ein kubanischer Nationalist. So sehr, dass er im Oktober 1962 bereit war, das Land in einem Atomkrieg zu opfern. Sollte Kuba nicht mehr Kuba sein können, selbstbewusst und souverän, dann soll es lieber gar nicht mehr sein. Patria o muerte – Vaterland oder Tod.

Von rechts nach links gelesen heißt die Gleichung: Kuba ist Fidel. Auch diese Aussage stimmt. Alle Kubaner wissen das. Diejenigen, die dort geblieben sind, ohnehin. Als er 1959 den Diktator Batista vertrieb, haben sie ihn geliebt. Und sie lieben und verehren ihn heute noch als den, der Kuba erst zu Kuba gemacht hat. Es ist ein reifere Liebe geworden. Wie die von erwachsen gewordenen Kindern zu ihrem Vater. Man kennt seine Schwächen und Sturheiten, aber man verzeiht sie ihm. Man macht Witze darüber, aber diese Witze enthalten immer auch Selbstironie. Erst recht wissen das die Exilkubaner. Sie hassen ihn bis auf den Tod und brauchen ihn gleichzeitig lebendig. Grundlage ihrer Existenz ist die Gleichung: Kuba ist Fidel. Ohne diese Gleichung sind sie nichts.

Selbst Sachbuchautoren rettet diese Gleichung. Skierka durfte den máximo líder nur von Ferne sehen und schrieb deshalb eine Geschichte der kubanischen Revolution. Aber weil Fidel Kuba ist und Kuba Fidel, ist auch das eine Biografie. Niemand weiß das besser als Marita Lorenz. Sie hat ihr Leben lang unter dieser Gleichung gelitten, um sie nun, in der Rückschau, in aller Naivität aufzuschreiben.

Volker Skierka: „Fidel Castro. Eine Biografie“. Kindler-Verlag, Berlin 2001, 544 Seiten, 49,90 MarkMarita Lorenz: „Lieber Fidel. Mein Leben, meine Liebe, mein Verrat“. List-Verlag, München 2001, 280 Seiten, 42 MarkToni Keppeler, 44, ist taz-Korrespondent für Zentralamerika und die Karibik. Auch er hat Fidel Castro bislang nur aus der Ferne gesehen