auf augenhöhe
: RICHARD ROTHER über Buletten, Bars und Brecht

Neues aus Friedrichshain

Friedrichshain strotzt mittlerweile vor Selbstbewusstsein. Da werden Bäume gepflanzt, Brücken saniert, Toilettenhäuschen aufgestellt. Im ehemaligen Ostberliner Armenhaus geht es langsam aufwärts, und das Motto des Bezirks, der zu Jahresbeginn mit dem zusehens verelendenden Kreuzberg fusionieren musste, prangt auf der eigenen Homepage – auf Chinesisch und auf Englisch: „We should do more and engage less in empty talks.“

Taten statt Worte finden sich auch im ehemaligen Kulturhaus „Knorre“. In der legendären Kneipe tranken langbärtige Ostberliner jahrelang bulgarischen Rotwein, bei einer Caro über Dramaturgie oder Bühnenbild irgendeines Offstücks debattierend. Jetzt ist ein neuer Besitzer in die gemütliche Knorrpromenade gezogen. Er will mit einer Cocktailbar und gehobener internationaler Küche ein zahlungskräftiges Publikum anlocken, obwohl sich dieses auf dem nahe liegenden und sehr sanierungsbedürftigen S-Bahnhof Ostkreuz noch nicht ganz wohlfühlen dürfte.

Das schadet der neuen inneren Sicherheit der Friedrichshainer Seele aber wenig; ihr begegnet man auch, wo man sie am wenigsten vermutet: etwa beim Fleischer, der auf keinen Fall Metzger genannt werden darf. Da kommt es schon mal vor, dass ein Student einen Fleischer-Metzger mit blöden Fragen belästigt. Der Student, der offenbar etwas aus der Übung gekommen ist, weil er jahrelang in einer Veganer-Terroristen-WG vegetieren musste, will schüchtern wissen, wie viele durchgeweichte Brötchen er unters Hackfleisch rühren müsse, wenn er Buletten für sechs Personen mache. „Schrippen ma’ ick jar keene rin, ick ess doch keene Arme-Leute-Buletten“, meint der Fleischer-Metzger und grinst fast so breit wie die Karl-Marx-Allee.

Sogar die Plattenbauten hinter dem stolzen Prachtboulevard des Arbeiter-und-Bauern-Staates stehen nicht mehr leer. Sie sind wieder in. Nicht nur als coole Locations für Bars und Clubs, sondern auch zum Wohnen. Eine Frau, die sonst nur in Szene-Bezirken und -WGs gewohnt hat, ist neulich in ein Hochhaus am Ostbahnhof gezogen: 16. Stock, ein Blick fast wie vom Fernsehturm, und das für gute 1.000 Mark warm zu zweit. Weit unten schlängeln sich ICEs und S-Bahnen durch die Stadt im Abendrot.

Das für solche Augenblicke typische Fernweh kommt bei der Einweihungsfeier dennoch nicht auf. „Was will man mehr, als mit ’nem dicken Joint auf’m Balkon abhängen?“, meint die neue Wohnungsbesitzerin, zufrieden in die Sonne blinzelnd. Nebenan dröhnen die fetten Bässe von Seeed, den „singenden Caballeros auf nem bockigen Beat“. Sie haben der „Mama Berlin“ den Dancehall-Sommerhit geschrieben. Warum? In Berlin feiern die Jungs mit dem „dicken Smoke“ Parties „bis morgens sieben Uhr – woanders gibts ne Sperrstunde, bei uns die Müllabfuhr.“ Und lieben es: „Dickes B, home an der Spree, im Sommer tuts gut, und im Winter tuts weh.“

Gut tut auch die Simon-Dach-Straße. Zwar weniger den lärmgeplagten Anwohnern, dafür umso mehr den Wirten. An der Friedrichshainer Ausgehmeile öffnet jede Woche eine neue (Studi)-Kneipe. Trotzdem sind sie alle rappelvoll. Eine dieser New-Economy-Locations ist selbstbewusst genug, sich den Anflug einer Südstaaten-Whisky-Bar zu geben. Auf dem Tresen steht die Porzellanstatue einer schwarzen Frau, die gerade aus der Requisite einer Minstrel-Show entliehen scheint: halbnackt, mit buntem Röckchen, die Lippen knallrot, die Augen übergroß und weit aufgerissen. Vor der Statue – eine finstere Niggerkarikatur aus den Vierzigern – lümmelt ein junger Mann am Tresen. Der Mann, Typ Programmierer oder Webdesigner, flirtet mit einem Freund und erzählt, wie „deep impressed“ ihn Spike Lees neuer Film „It’s Showtime“ habe – ein „geniales antiracist Black-Pride-New-Millennium-Lehrstück, bei dem Brecht seine Freude gehabt hätte“. Der Mann dreht sich abrupt um, seine Schulter streift das Kunstgewerbemonstrum, das auf den Boden fällt und zerbirst. Es sieht nicht aus wie Absicht, aber der Tullamore Dew schmeckt den beiden nun sichtlich besser.

Derartiger Porzellanbruch bleibt allerdings in der neuen Mitte Friedrichshains die Ausnahme; normalerweise gehen Gläser und Bierflaschen kaputt, vorzugsweise nachts um drei an den Tischen auf den Bürgersteigen. Mittlerweile geht der Rummel selbst denen auf den Keks, die vor zehn Jahren den Stein ins Rollen beziehungsweise zum Fliegen gebracht haben: den ehemaligen Hausbesetzern. Heute schieben sie – wenn nicht gerade wie in der Nacht vor dem 1. Mai Barrikaden brennen – ihre Kleinen im Buggy auf den Boxhagener Platz, auf dem „Boxi“ zwischen Pinschern, Punks und Pennern Erholung suchend.

Der Trubel in den Kneipen, gleichsam der Kampf um die goldene Kasse, hat indirekt dennoch eine zivilisierende Wirkung. Das Angebot erzeugt seine Nachfrage, und so ziehen immer mehr junge Studenten – vornehmlich solche aus der ostdeutschen Provinz, die der dortigen rechten Hegemonie fliehen – in den einst grauen Stadtteil. Eine Folge dieser Masseneinwanderung ist in der Videothek zu beobachten: Eine Viertelstunde anstehen müssen, um ein Tape aus der wachsenden Rubrik „anspruchsvolle Filme“ auszuleihen, ist keine Seltenheit mehr. Dann schickt die hippe Kassiererin neue Kunden, die sich der aufwändigen Anmeldeprozedur unterziehen wollen, in die Pornoabteilung. „Da ist leer, die haben Zeit.“