Die Leichtigkeit ist weg

Der Weltranglistenersten Martina Hingis aus der Schweiz ist die Siegeszuversicht abhanden gekommen, weshalb heute nicht sie, sondern Jennifer Capriati im Finale der French Open steht

aus Paris DORIS HENKEL

Auch am nächsten Montag wird Martina Hingis wieder an der Spitze der Weltrangliste stehen. Der Vorsprung auf die Zweite, Venus Williams, wird größer sein als zuvor, denn die ältere der Schwestern hat in Paris schon in Runde eins verloren, Hingis hingegen verteidigt den Besitzstand mit dem gleichen Ergebnis wie im vergangenen Jahr. Doch der Vorsprung auf Jennifer Capriati, einst ein Eisberg von beträchtlicher Größe, schmilzt von Woche zu Woche. Die Frage, ob die Amerikanerin zurzeit die beste Tennisspielerin der Welt sei, beantwortet die Nummer eins ohne zu zögern so: „Ja, das kann man sagen. Sie hat in Australien gewonnen, sie hat mich hier besiegt, sie hat die Schwestern besiegt, und sie steht jetzt wieder im Finale. Zurzeit ist sie die konstanteste, die heißeste Spielerin der Tour.“

Das kann man so sagen. Mit ihren großen Füßen rennt Capriati auf und davon, und sie rennt mit einer Freude, die ihr dabei hilft, noch besser und noch schneller zu sein. Schon im vergangenen Jahr war zu erkennen, dass sie im zweiten Teil ihres Lebens als Tennisspielerin besser ist, als sie es im ersten jemals war, und was damals noch fehlte, das holte sie sich mit dem wunderbaren Sieg vor fünf Monaten im Finale in Melbourne.

Damals erklärte Martina Hingis, ihr habe nach zwei schweren Spielen gegen Venus und Serena Williams am Ende die Kraft gefehlt, um sich zu wehren. Diesmal, im Halbfinale von Paris, verlor sie mit dem gleichen Ergebnis, obwohl sie sich nach eigenem Bekunden so frisch gefühlt hatte wie schon lange nicht mehr. Ob sie die Grenze der körperlichen Fitness erreicht hat oder wie viel Spielraum da noch ist, das weiß nur sie selbst. Sie ist um Lichtjahre besser in Form als vor vier Jahren, als ihr nur der Titel in Paris zum Gewinn des Grand Slam fehlte, oder als vor knapp zweieinhalb Jahren, als sie 1999 in Melbourne den bisher letzten ihrer fünf Grand-Slam-Titel gewann.

Doch was sie in diesen Wochen vor allem von Capriati unterscheidet, das fällt in die Abteilung Zuversicht. Die Amerikanerin sagt, sie empfinde den Stress in einer brenzligen Situation des Spiels als „positiven Stress“ und in gewisser Weise genieße sie dieses Gefühl. Martina Hingis hat früher in ihren Bewegungen und Gesten manchmal den Eindruck gemacht, allein der Gedanke an eine Niederlage käme ihr lächerlich vor. Seht her, ich bin unantastbar, das war die Botschaft ihres Spiels.

Das ist noch immer so, wenn sie gegen eine aus dem Fußvolk spielt, doch die Souveränität ist weg, wenn Capriati, die Williams-Schwestern oder manchmal auch Davenport auf der anderen Seite stehen. Heinz Günthardt, der unter anderem sieben Jahre lang Steffi Grafs Coach war, hat mal gesagt, je weniger Hingis auf dem Platz zeige, desto besser sei sie in Form. Mittlerweile sieht man, wie sehr sie sich bemühen muss; die himmlische Leichtigkeit ist verschwunden, und das wissen die anderen.

Es sieht nicht so aus, als hätte Martina Hingis eine genaue Vorstellung davon, was zu tun ist, um nicht nur die Nummer eins zu bleiben, sondern auch wieder die beste Spielerin zu werden. „In den letzten zwei Monaten hat es viele Veränderungen gegeben“, sagt sie, „und manche sind vielleicht zu spät gekommen. Aber jetzt sollte alles in Ordnung sein.“ Sie werde jetzt weiter mit ihrer Mutter trainieren, die familiäre Situation sei geklärt.

Wenn sie sich selbst und anderen verspricht: „Meine Zeit kommt schon noch“, dann klingt das verwirrend und sagt doch viel. Jetzt ist es erst mal Zeit für einen weiteren Blick auf Jennifer Capriati und auf die keineswegs chancenlose Kim Clijsters im heutigen Finale (14 Uhr). Falls Capriati gewinnt, wäre sie die Erste seit Monica Seles anno 92, die nach dem Titel in Australien auch jenen bei den French Open holt. Im Halbfinale damals besiegte Seles ein unendlich naives Mädchen, das alle Jenny-Baby nannten. Heute weiß Jennifer, mittlerweile 25 Jahre alt, kaum noch, wohin mit ihrer Freude auf das Finale. „Ich könnte schreien mit der ganzen Kraft meiner Lungen. Ich möchte aufspringen, und ich bin total aufgeregt.“