Der süße Duft des Sieges

Nach ihrem Sieg bei den French Open gegen die Belgierin Kim Clijsters beginnt die US-Amerikanerin Jennifer Capriati verschärft an den Grand Slam zu denken, den zuletzt 1988 Steffi Graf gewann

aus Paris DORIS HENKEL

Sie fühlte die Freude der Leute im Stadion, sie sah die Rührung in den Gesichtern von Vater, Mutter und Bruder, sie hörte den Beifall; alles verschmolz zu einer Einheit ungetrübten Glücks. Es war der Moment, in dem Jennifer Capriati (25) am Samstagnachmittag kurz nach fünf auf das Podium stieg, um jenen Coupe von Suzanne Lenglen abzuholen, den die Siegerin der Internationalen Tennismeisterschaften von Frankreich ein paar Stunden lang besitzen darf. Den Pokal hat sie inzwischen sicher zurückgegeben, doch geblieben ist sicher die Lust darauf, Ähnliches so bald wie möglich wieder zu erleben.

Sieht so aus, als sei Miss Jennifer auf den Geschmack gekommen. Nach dem Sieg Ende Januar bei den Australian Open in Melbourne und dem Triumph am Samstag in Paris gegen die bewundernswerte Debütantin Kim Clijsters (1:6, 6:4, 12:10) stehen ihr alle Wege offen. Da mag Martina Hingis noch immer nominell mit großen Vorsprung die Nummer eins der Weltrangliste sein, die Nummer eins auf dem Platz in diesem Jahr ist Capriati und niemand sonst.

Und in gewisser Weise hat der Titel von Paris größeres Gewicht als jener von Melbourne. Damals spielte sie wie auf einer Wolke und gewann gegen eine Gegnerin (Hingis), die nach schweren Spielen zu müde war, um sich noch wehren zu können; diesmal spielte sie mehr als eine Stunde lang nicht besonders gut und gewann trotzdem gegen eine Gegnerin, deren Courage bis zum allerletzten Ballwechsel hielt.

Wie man heutzutage spielen muss, wenn man ein Finale gewinnen will, das zeigte Kim Clijsters. Hart und schnell, mit dem Mut zum Risiko, flink auf den Beinen und selbstbewusst schon beim allerersten Mal. „Die Jungen spielen alle so“, sagt sie, „Dokic, Henin, Dementiewa, alle. Das ist wohl auch die Zukunft des Tennis.“ Sie zaudern und zögern nicht, selbst dann nicht, wenn der Druck zunimmt und die Spannung steigt, und sie nehmen in Kauf, dass sie Fehler machen angesichts des Risikos. Dass sie nicht ganz so viel rennen müssten, wenn sie sich öfter zu einem Ausflug ans Netz entschließen könnten, ist eine andere Sache, doch das trifft ja nicht nur auf das Frauentennis zu.

Die besten, die aufregendsten Momente hatte das Finale in der letzten halben Stunde. Den ersten Satz hatte zum allgemeinen Erstaunen Clijsters dominiert, im zweiten hatte Capriati sich selbst und die spürbare Unruhe besser im Griff, im dritten, der allein eine Stunde und 19 Minuten dauerte, trafen sie sich auf einer Ebene. Zweimal, bei 6:5- und 8:7-Führung, fehlten Clijsters beim Stand von 30:30 nur noch zwei Punkte zum Sieg; zweimal, bei 7:6 und 10:9, schlug Capriati zum Matchgewinn auf. Aber immer dann, wenn die eine einen Vorteil hatte, gab die andere wieder Gas. Clijsters hatte den Sieg so sehr verdient wie Capriati, doch die machte schließlich den entscheidenden Schritt. Als sie beim Stand von 11:10 zum dritten Mal zum Sieg aufschlug und spürte, wie allmählich ihre Kraft nachließ, wählte sie das Risiko, ging in die Offensive und gewann.

Eine furchtsame Spielerin ist sie nie gewesen, doch die Siege und Erlebnisse dieses Jahres haben ihr derart viel Zuversicht und Selbstbewusstsein gegeben, dass sie sich nun alles traut. Jederzeit und jeden Tag neu. Ihren Sieg widmete sie der amerikanischen Kollegin Corina Morariu, die seit ein paar Monaten schwer krank ist; über den relativen Wert von Sieg und Niederlage weiß sie Bescheid nach den Jahren der Irrungen. Kim Clijsters wird keinen Absturz brauchen, um herauszufinden, wer sie ist, und was sie kann; mit 18 ist sie mehr als nur Stückchen weiter, als es Capriati damals war.

In ihrer kleinen Rede auf dem Podium bedankte sie sich bei ihrem Kumpel Lleyton („mon copain“), der darauf hin verlegen grinste, sie prophezeite aber auch, dass die Siegerin in diesem Jahr weitere Grand-Slam-Titel gewinnen werde. Es fehlen nur noch zwei. In 14 Tagen beginnen die All England Championships in Wimbledon, und auf Gras spielt Jennifer Capriati fast so gern wie auf den Hartplätzen daheim in den USA. Hält sie jenen großen Wurf für möglich, der seit Steffi Graf 1988 keiner und keinem mehr gelungen ist, denkt sie an das Zauberwort Grand Slam?

„Warum nicht?“, fragt sie. Alles ist möglich, weil sie daran glaubt; der süße Duft des Sieges weist ihr den Weg.