Im Land von Mund und Haase

In einer Welt ohne Arbeit gibt es auch keinen Kapitalismus. Dafür einen Zauberhut – aus dem fallen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

aus Genthin THOMAS GERLACH

Herr Mund und Herr Haase spielen Arbeitsamt.

Herr Haase: „Wenn der Herr Mund arbeitslos wäre, ist eine ABM doch sinnvoll?“

Herr Mund schweigt.

Herr Haase: „Aber für alle zwischen 25 und 45 Jahren ist eine ABM keine Lösung, die müssen selbst was finden.“

Herr Mund schweigt und nickt, er ist älter. Herr Mund braucht keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, keine ABM. Herr Mund und Herr Haase haben Arbeit – gute Arbeit, und das ist selten im Jerichower Land wie überall in Sachsen-Anhalt. Mund und Haase verrichten einen wichtigen Dienst: Sie sind Zauberer, sie zaubern Arbeit her und Arbeit bedeutet Glück, Geld und Segen. Klaus Haase ist Chefkoordinator und Fritz Mund Finanzkoordinator der „Qualifizierungs- und Strukturförderungsgesellschaft“, kurz QSG, in Genthin, nordöstlich von Magdeburg.

Die QSG ist ein riesengroßer Zylinder, aus dem vieles herauspurzelt: Arbeitsförderungsprogramme, Statistiken, Schiffsanleger, Windmühlen, Hünengräber, Mahlzeiten, Familienfeiern, Übernachtungen, Dorfchroniken, Prospekte, ein Friedhof, ein Ausflugsdampfer, eine Elbfähre. Der Zylinder QSG zaubert seit zehn Jahren und macht Landschaften und Menschen schöner. Herr Mund und Herr Haase sind stolz auf den Zauberhut und das, was herausfällt. Doch der Hut muss vorher gefüllt werden: mit Geld aus Magdeburg, Berlin und Brüssel. Je mehr Geld hineinfällt, desto mehr Dinge kommen heraus.

Herr Mund spaziert vor Kulisse

Herr Mund und Herr Haase sind aus ihrem Büro herausgetreten und spazieren vor einer Industriekulisse wie zwei Vorruheständler. „Dort drüben beim Waschmittelwerk hat alles angefangen“, sagt Haase. „Damals nach der friedlichen Revolution.“ Die Familie Henkel aus Düsseldorf habe das Werk zurückgekauft und die Belegschaft wurde von 1.500 auf 250 Arbeiter reduziert. Damals sammelten Henkel-Werker für die Entlassenen Geld, die Familie Henkel legte was drauf, sieben Millionen Mark kamen zusammen, ein Verein wurde gegründet, der mit anderen Vereinen eine „Auffanggesellschaft“ schuf.

Die QSG war geboren, begann zu wachsen und gebar Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die sie den ehemaligen Waschmittelwerkern bescherte: Rechtsberatung, Schuldnerberatung, Jugendclubs, und natürlich riss sie das alte Waschmittelwerk nahezu komplett ab. Gebäudeabbruch durch „Ökosan“: die „ökologische Sanierung“ in fünf Stufen. Fünf Jahre ABM, Geld, Baumaschinen und ein Name wie aus dem Labor.

Heute künden bunte Skizzen im Leistungskatalog der QSG vom ersten Großprojekt. „Henkel hatte Ruinen übernommen“, sagt Herr Haase. „Und mit diesen ABM und dem schnellen Rückbau hat das Unternehmen Kosten gespart.“ Das Gelände ist heute grün wie ein Sportplatz, in dessen Mitte Waschpulver abgefüllt wird. Der erste Zauber der QSG. Und viele hatten Arbeit.

Wer kann sich dem Zauber entziehen im Bundesland mit der höchsten Arbeitslosenquote von über 21 Prozent? Die QSG ist im Jerichower Land ein mittelständisches Unternehmen geworden – mit Geschäftsbereichen, Stammkapital, Aufsichtsrat und Posten. Und einem Handelsregistereintrag: „Gegenstand des Unternehmens ist zum einen die Organisation und Durchführung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Personen, zum anderen die Durchführung von Maßnahmen, die der Verbesserung der erwerbswirtschaftlichen Struktur der Region dienen.“ Ein weites Feld. Nur die Kirche pflügt einen größeren Acker.

Herr Haase breitet Prospekte aus

Herr Mund und Herr Haase bleiben bescheiden. „Die QSG wird es noch eine Weile geben“, sagt Chefkoordinator Haase. Obwohl das Geld von Henkel bald aufgebraucht sei. Die beiden Herren mühen sich, dass die Arbeit nicht ausgeht; die „Maßnahmeergebnisse“ der QSG füllen Seiten: einen Ausflugsdampfer wieder flott gemacht, eine Autofähre gebaut, Wind- und Wassermühlen katalogisiert, hunderte Kilometer Radwege gelegt, einen Hugenottenfriedhof saniert, die Landessportschule abgerissen und eine neue gebaut, 18 Bootsanleger errichtet, Spielplätze gebaut, einen Teich, eine Streuobstwiese, eine Reitsporthalle, eine Kirche aufgebaut. Und viele hatten Arbeit.

Das ist nicht alles. Die QSG beschafft nicht nur Arbeit, ihre Strukturen brauchen selbst Beschäftigung. Es ist die Angst vor dem eigenen Ende, die jeden Organismus am Leben erhält. Wenn das Werk abgerissen, die Radwege und Bootsanleger eingeweiht, Friedhöfe, Teiche und Wiesen saniert, Häuser und Kirchen gebaut sind, was dann? Dann greifen die Arbeitsbeschaffer zu ihrem „ganzheitlichen Tourismuskonzept für das Jerichower Land“ und weisen auf Handlungsbedarf und Konfliktpotenziale hin: Die Rohpappenfabrik muss gesichert, die Postmeilensteine beschriftet, eine Schleusenkammer freigelegt, Müllkippen abgedeckt, fehlende Parkplätze geschaffen und noch mehr Bootsanleger gebaut werden.

Das ist nicht alles. Herr Haase ist zurück am Schreibtisch und breitet Prospekte aus. Der erste Arbeitsmarkt siecht, die QSG strotzt vor Kraft: Die Ferien- und Freizeitanlage „Haus Kiefernblick“, das Landschulheim „Waldhof“, der „Königsroder Hof“ – jeweils mit Angeboten für Übernachtung, Vollverpflegung, Erlebniswochenenden und Familienfeiern. Wenn jemand Bagger oder Lkw braucht, kann er ihn im „Nutzfahrzeuge Maschinenring“ oder im Fuhrpark der QSG mieten, mit oder ohne Fahrer.

Die Maschinen vom Werksabriss sind bei der QSG geblieben. Und wer für fünf Mark Zigeunersteak mit einer Kelle Letscho obenauf essen will, geht ins „Haus der QSG“. Das ehemalige „Haus der Werktätigen“ neben dem Henkel-Werk ist offenbar das Lieblingsprojekt von Herrn Mund. Vielleicht wäre er lieber Gastwirt geworden, vielleicht schaut er nur gern in Edelstahltöpfe und isst gern in dem Saal, der so groß ist, dass hier ein Fallwind weht.

„Mahlzeit!“ – Fritz Mund balanciert Möhreneintopf zum Tisch. Die QSG ist ein Riese, keine andere Firma im Landkreis beschäftigt so viele Menschen, derzeit über 800. Fritz Mund erzählt: Früher war er Chefökonom im VEB Waschmittelwerk, bis die Leute von Henkel kamen. Er wurde freigestellt, die QSG aufzubauen, und er blieb. In all den Jahren hat Mund die Bilanzen geführt. Sie haben immer gestimmt, sagt er. Die Beschäftigungsgesellschaften sind ins Gerede gekommen: Gegen den Landrat im Nachbarkreis wird wegen Betrugs ermittelt, der Chef der ABM-Gesellschaft in der Nachbarstadt wurde zu drei Jahren Haft verurteilt.

Mund hat ein reines Gewissen. Er kratzt den Teller leer und holt sich Nachschlag. Die QSG ist die Fortsetzung des VEB Waschmittelwerk – nur, dass kein Waschmittel mehr herauskommt. Planstellen schaffen, mit den staatlichen Stellen kooperieren, deren Zuschüsse verwalten und damit „arbeitsmarktpolitische Maßnahmen“ und „erwerbswirtschaftliche Strukturen verbessern“. Solche Sätze erinnern viele an die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ der DDR: Arbeitsbeschaffung, Kantinenessen, Jugendweihefeiern, Ferienwohnungen und Kinderbetreuung – die QSG bietet das, was früher in jedem VEB selbstverständlich war: sozialpolitische Errungenschaften.

Wo Arbeit fehlt, fehlt auch der Kapitalismus. Den gibt es hinterm Zaun bei Henkel. In der Welt der QSG wird Arbeit gezüchtet wie neue Rüben, hier zählen Infrastrukturprogramme, Qualifizierungsoffensiven und Wahlversprechen, davon ernährt sich jede Beschäftigungsgesellschaft. Reinhard Höppner und Gerhard Schröder brauchen solche Betriebe, nur sie können tausende ABM-Stellen schaffen.

Im nächsten Jahr sind Wahlen im Landtag und im Bundestag. Womöglich wird die QSG wieder Bauwagen in den Wald fahren, ABM-Arbeiter gehen durchs Unterholz und verschwinden für ein paar Monate aus der Statistik wie bei den letzten Wahlen. Wer murrt, wenn es das gibt, was Regierende versprechen: Arbeit? Die Zukunft der QSG ist sicherer als die des Henkel-Werkes nebenan.

Herr Mund holt sich Kaffee

Herr Mund kehrt mit dampfenden Möhren zurück. ABM ist zu einer sozialpolitischen Maßnahme geworden, die nebenbei Dampfer, Radwege, Bootsanleger, Ferienwohnungen und Autofähren produziert. Und wenn das alles keiner benutzt, die Fähre rote Zahlen schreibt und mit dem Schiff keiner fährt? Dann wird die Fähre verkauft, der Dampfer verpachtet, die Wege und Anleger halten auch so ein paar Jahre. Die Investitionen zahlt der Staat. Genutzt werden die Erlebniswochenenden und Ferienwohnungen, wo sonst kann man für 40 Mark pro Person eine Wohnung mit Vollpension buchen? Ein bisschen Geborgenheit und Sozialismus hinterm Elbdeich. Gastwirte und Hoteliers gucken bei den Preisen in die Röhre, kein Privater kann da mithalten, sie reden von Wettbewerbsverzerrung.

Fritz Mund wischt sich die Lippen, er versteht den Ärger: „Aber die Leute können sich höhere Preise doch sowieso nicht leisten!“ Er steht auf und holt sich Kaffee. Das sind Errungenschaften – der Zauber funktioniert.