Nur ein Einstieg in den Ausstieg

Heute wird, nach zweieinhalb Jahren Tauziehen, der Atomkonsens unterzeichnet. Die Industrie hat viel gerettet, Rot-Grün immerhin ein Zeichen gesetzt

aus Berlin MATTHIAS URBACH

Wenn heute Abend vier Vertreter der großen Energiekonzerne im Kanzleramt den Atomkonsensvertrag feierlich unerschreiben, können sie zufrieden mit sich sein. Denn sie haben viel herausgehandelt. Im letzten Moment gelang es ihnen sogar noch, sich der Verpflichtung zu entledigen, 100 Millionen statt 12 Millionen Mark Versicherungsprämie jährlich für ihre Meiler auszugeben. Die von der Bundesregierung geforderte Erhöhung der Deckungssumme für Schadenersatz auf 5 Milliarden Mark erfolgt nun über eine gegenseitige Garantieerklärung der Atomstromer statt über eine ordentliche Versicherung (siehe Interview). Das ist billiger.

Kurz nach dem Regierungswechsel vor zweieinhalb Jahren war die Stimmung ganz anders: Damals treffen sich die vier wichtigsten Strombosse in der Zentrale von Bayernwerk (heute Eon) in München, und ihre Sorgen sind groß. Sie fürchten Jürgen Trittin, den grünen Umweltminister. Schließlich sind die Atomtransporte nach dem Castor-Skandal gestoppt, bereits 1999 drohen in sechs Meilern die Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente überzulaufen.

Die Manager haben Angst, dass der alte Plan der Antiatombewegung doch noch aufgehen könnte: die Meiler am eigenen Atommüll verstopfen zu lassen. Schon damals ist man sich klar darüber, dass man eine Laufzeit in der Größenordnung von 35 Jahren akzeptieren muss. Hinter verschlossenen Türen feilschen die Manager bereits, welche Atommeiler Rot-Grün bis zur nächsten Wahl geopfert werden. In München schwört man sich, ein letztes Mal fest zusammenzuhalten – und kräftig auf Zeit zu spielen. Es soll sich lohnen.

Rot-Grün ist erpressbar

Die Regierung macht es ihnen leicht: Bereits in der Koalitionsvereinbarung hatte die SPD mit dem Junktim des „entschädigungsfreien“ Ausstiegs ihre Verhandlungsposition gegen den Willen der Grünen entscheidend geschwächt. Dadurch wird Rot-Grün erpressbar – und die Konzerne sind groß darin, alles Strittige mit einem Preisschild zu versehen: Ein schneller Ausstieg aus der WAA kostet 3,5 Milliarden Mark, ein Jahr verkürzte Laufzeit 350 Millionen pro Meiler.

Bereits im Januar 1999 ruiniert der Kanzler vollends die Verhandlungsposition. Um nicht unter Zeitdruck zu geraten, war im Koalitionsvertrag ein straffes Prozedere vorgesehen: verschärfte Atomnovelle nach 100 Tagen, ein Jahr verhandeln und bei Misserfolg den Ausstieg per Gesetz erzwingen. Trittin legt pünktlich die in den Ressorts abgestimmte Atomnovelle vor. Hauptpunkt: sofortiges Verbot der Wiederaufarbeitung.

Zwei Tage vor der entscheidenen Kabinettssitzung empfängt Gerhard Schröder die Konzernherren. Die Manager machen dem Kanzler klar, wie wichtig es ihnen ist, weiter Müll nach Frankreich kutschieren zu dürfen: Schließlich dürfen die Meiler nicht verstopfen. Im Alleingang sackt der Kanzler die Novelle ein.

Dabei hatte Trittin nie vor, die Meiler zu verstopfen. Schon in der Koalitionsvereinbarung ist auf Drängen der Grünen davon die Rede, die Zwischenlagerung am Kraftwerk zu ermöglichen. So ist es am Ende gekommen.

Mit Schröders Veto ist der zeitliche Druck weg. Trittin agiert zu ungeschickt, der grüne Parteivorstand ist zu schwach, dem Kanzler Paroli zu bieten. Die Koalition ist in diesem Frühjahr nur mit sich selbst beschäftigt, die Industrie spekuliert auf den Bruch von Rot-Grün P und wartet ab.

Als im Sommer die Koalition wieder in Tritt kommt, empfangen Außenminister Joschka Fischer und Trittin die Atommanager im Gästehaus des Auswärtigen Amtes. Die beiden bieten die flexible Lösung an, also die Übertragung von Restlaufzeiten von einem Meiler auf den anderen. So hoffen sie, Atommeiler noch vor der Wahl vom Netz zu kriegen.

Doch die Industrie muss darauf gar nicht richtig reagieren, denn die Koalition steht sich weiter selbst im Weg. Monatelang streiten die Staatssekretäre um die richtige Ausstiegsfrist. Bedenkenträger aus Wirtschaftsministerium und Justizministerium schwächen systematisch die Verhandlungsposition der Regierung. „Faktisch hatte die Industrie Verbündete auf der Gegenseite“, urteilt Wolfgang Irrek, Ökonom am Wuppertal Institut. Im Dezember 1999 stand das Drohpotenzial der Regierung endlich fest: lockere 30 Jahre Laufzeit per Gesetz, falls die Industrie nicht spurt. Trittin hatte 25 Jahre gewollt.

Erst jetzt muss die Industrie die Verhandlungen wieder ernst nehmen. Ein halbes Jahr lässt sie sich Zeit für den Konsens. Das Umweltministerium muss den Konzernen – meist ohne Gegenleistung – immer wieder entgegenkommen, weil Wirtschaftsministerium und Kanzleramt immer wieder weich werden. Mit jedem Monat Verhandlung kann sich die Industrie mehr herausnehmen. Sogar nach dem Konsensbeschluss vor einem Jahr geht der Kleinkrieg weiter – um jede Formulierung. Wäre der Konsens im vergangenen Monat noch gescheitert, hätte die Regierung vor dem Nichts gestanden – die Zeit bis zur Wahl wäre viel zu kurz, um ein Ausstiegsgesetz zu erlassen und es hinterher vor Gericht gegen die Konzerne zu verteidigen.

So ist es zu erklären, dass sich die Industrie noch im letzten Moment um die Versicherung ihrer Meiler bei einer ordentlichen Versicherungsgesellschaft drücken kann – per billige Garantieerklärung. Die belastet zwar die Bilanz und damit die Kreditwürdigkeit, die dadurch entstehenden Kosten sind im Vergleich zur Police aber „nur Peanuts“, meint der Wuppertal-Institut-Experte Irrek.

Konzerne erfolgreich

Unterm Strich konnten die Konzerne das Schlimmste verhindern: Es gibt keine Umkehr der Beweislast in Sicherheitsfragen, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, alle bestehenden Verträge zur Wiederaufarbeitung dürfen erfüllt werden, für den bereits gerichtlich stillgelegten Meiler Mülheim-Kärlich kann sich RWE elf Betriebsjahre extra anrechnen. Keine Uransteuer, keine weitere Kürzung der Rückstellungen – und auch die neue Haftungsregel kostet die Atomstromer faktisch nichts. Bloß bei den Sicherheitsüberprüfungen setzt sich Trittin durch: Jeder Meiler wird nun durchleuchtet und muss gegebenenfalls nachrüsten.

Sicher: Die Laufzeit der Meiler wird auf 32 Jahre begrenzt. Doch dafür hat die Industrie die Garantie für einen „ungestörten Betrieb“. Schluss also mit dem ausstiegsorientierten Sicherheitsvollzug, wie ihn einige rot-grüne Bundesländer versuchten, Schluss mit der Hängepartie um den fehlenden Entsorgungsnachweis.

Was Rot-Grün vor allem erreicht hat, ist ein politisches Symbol: den Einstieg in den Ausstieg, wenn auch mit Verzögerung. Ein deutliches Zeichen, das zumindest einen Neubau hierzulande unwahrscheinlich macht. Den Stromkonzernen kann das egal sein: Ihnen ging es nur darum, ihre Investitionen zu retten. Das haben sie geschafft. Und sie hoffen auf einen Regierungswechsel, nach dem die Kernkraft eine Renaissacne erleben könnte.