Auf Sparflamme

Musikalisch ansprechend, optisch fragwürdig: „Rake's Progress“ an der Staatsoper  ■ Von Frank Schönian

„Gut musiziert ist halb gewonnen“, mag mancher gedacht haben bei der Premiere von Igor Stravinskys The Rake's Progress an der Staatsoper. Das Philharmonische Staatsorchester unter Ingo Metzmacher interpretierte klangbeseelt und feinsinnig des Wüstlings Werdegang. Jürgen Flimms Inszenierung sowie Bühnenbild und Ausstattung von Gottfried Helnwein kochen dagegen auf inspiratorischer Sparflamme: Diffuse Stilvermengungen bei den Kostümen, ermüdende Video-Einspielungen und einförmig im Takt hüftschwingende, gestikulierende oder kreiselnde Chormitglieder werden Stravinskys vielschichtiger, neoklassizistisch getönter Musik nicht gerecht.

Der Griff in die Plunderkiste der Regie für die letzte Premiere der Saison ist auch nicht damit zu rechtfertigen, dass die Figuren und die Handlung der 1951 in Venedig uraufgeführten und bereits im selben Jahr von Günther Rennert an der Hamburgischen Staatsoper he-rausgebrachten Oper sich eng an die Tradition des Morality Play anlehnen. Das stilistische Ausstattungspotpourri und die blasse Spieltechnik der Figuren stiften keine Sinnzusammenhänge, sondern vermeiden sie. Flimm/Helnwein wären gut beraten gewesen, sich auf die Quellen des Textes zu besinnen, der eine gelungene Koproduktion zwischen Stravinsky und Wystan Hugh Auden à la Mozart/da Ponte ist: 1947 hatte Stravinsky in Chicago den Kupferstichzyklus „A Rake's Progress“ des englischen Malers William Hogarth (1697–1764) gesehen. Auf den acht Bildern, um 1733 entstanden, attackiert Hogarth das Verlangen einfacher Bürger, den ausschweifenden Lebensstil der Adligen nachzuäffen, und prangert die erbärmlichen Verhältnisse in den geschlossenen Anstalten an. Von solcher Sozialkritik ist in der Hamburger Inszenierung freilich nicht viel zu bemerken: Dass der finstere Shadow mit Philisterdeckel und Rohrstock vor einer Schiefertafel Tom Rakewall die Wonnen der Wollust predigt, erweist sich als abgeschmackter Einfall. Die Puffmutter Mother Goose – immerhin ein Slangausdruck für Geschlechtskrankheit – wird allzu wörtlich kurzerhand in eine an Daisy Duck erinnernde Kostümierung gesteckt. Die Video-Projektionen innerhalb des Bühnenkubus, in dem das Geschehen stattfindet, sind anfänglich noch erträglich und sinnstiftend für den Einbruch des teuflischen Shadow in die paradiesische Unberührtheit. Spätestens, als im zweiten Akt die rot glühenden Rücklichter einer Autokarawane Toms Überdruss gegenüber den Londoner Ausschweifungen symbolisieren sollen, hat das Stilmittel ausgedient.

Die musikalische Leistung bleibt davon frei: Beseelt und elegisch leiten Oboe, Horn und zwei Fagotte das Arkadien ein. Satt intonieren die Philharmoniker den barocken Pulsschlag Händelscher Breite, prachtvoll-feierlich gelingt die Sarabande zum Einzug der Türkenbaba nach der Heirat mit Tom. Die Mezzosopranistin Julia Juon (Baba) lotet kraftvoll und mit nuancenreichem Timbre die feminin-maskulinen Mischanteile aus. Zum Gütebeweis gerät die Kirchhofszene: Tenor Bruce Fowler phrasiert mit gekonnten Legati und bringt Toms Hadern mit dem Schicksal gelungen zum Ausdruck. Bassbariton David Pittsinger schmettert sein G-Dur-Lied entschlossen mit volkstümlichem Kolorit ein, bis das Cembalo übernimmt. Gabriele Rossmanith ist als kindlich-anmutige Anne herausragend: Sie brilliert mit klarem Sopran von leuchtender Strahlkraft, steigert lyrische Passagen ergreifend zu einem intensiven Hörgenuss – dieser Zauber entschädigt für die zuweilen schwächelnde Inszenierung.

weitere Vorstellungen: 13., 16., 20., 22. + 24.6., 19.30 Uhr, Hamburgische Staatsoper