Die Teleheimarbeiter der Zukunft

René Pollesch wurde in Mülheim für „www-slums“ mit dem wichtigsten deutschen Dramatikerpreis ausgezeichnet

In der postfordistischen Gesellschaft ist körperliche Arbeit im Wesentlichen durch Kommunikationsleistung ersetzt. Kommunikation ist der Hit, in allen ihren Variationen: per E-Mail, SMS, Telefon und Fernsehen, über Glasfaser oder Satellit. Manchmal auch von Mensch zu Mensch, obwohl der Mensch in der Kommunikationsgesellschaft ja eher eine untergeordnete Rolle spielt. Gefragt ist vor allem seine Anschlussfähigkeit. Einer, der den Anschluss geschafft hat – und zwar in einem Medium, das kommunikationstechnisch so gut wie gar keine Rolle mehr spielt – ist René Pollesch. Für seine Theatertexte, in denen hyperkommunikative Figuren unentwegt gegen ihr Verschwinden in der mediatisierten Globalisierung anschreien, ist der 39-Jährige am Sonntag mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet worden.

„World wide web slums“ heißt die am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg in wöchentlichen Fortsetzungen produzierte Textfolge, die die sechsköpfige Jury überzeugte. In ihr variiert Pollesch noch einmal das Thema, das auch seine vorangegangen Stücke „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“, „java-in-a-box“ oder „Smart House“ bestimmt hat: die Auflösung des privaten und öffentlichen Raums zu Gunsten einer allgegenwärtigen Produktionsphäre. Seine Figuren stecken als Teleheimarbeiter in denkenden Ganzkörpercomputern, sind „Teil der Revolution des investierenden Kapitals“ und erkennen ihre Gesichter nur mehr als „irgendwie deregulierte soziale Dimensionen“. Das Zuhause ist kein freundlicher Ort. Zur Lockerung des Seins im DaimlerChrysler-Terminal wird regelmäßig eine Nase Koks gezogen, weil man sich nicht zu tief in die Verhältnisse einstöpseln darf, die man ablehnt: „Wirklichkeitsräume brauchen eine engagierte Hackergeneration.“

René Pollesch begann bereits während seines Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen Stücke zu schreiben und selbst zu inszenieren. 1990 gründete er das Theater Montage Frankenthal, zwei Jahre später begann er erfolgreich an der Probebühne des TAT in Frankfurt zu arbeiten. Der Durchbruch kam jedoch erst vor zwei Jahren, als Pollesch sowohl vom Staatsschauspiel Stuttgart, dem Theater Luzern, dem Berliner Podewil als auch dem Jungen Theater Göttingen mit Stücken beauftragt wurde; 2000 holte ihn dann Tom Stromberg als Hausautor ans Deutsche Schauspielhaus Hamburg. In der kommenden Spielzeit wird Pollesch künstlerischer Leiter des Prater der Volksbühne in Berlin.

Der Workaholic schreibt weniger Stücke als einen intelligent mäandernden Endlostext, der in aktuellen Ausschnitten präsentiert wird. Das deutsche Theater wurde so um eine wichtige Stimme bereichert. Psychologischer Realismus liegt Pollesch fern, seine Darsteller sind Textträger, die vielstimmig Realität analysieren. Klischees und Mainstream-Jargon werden komplex reorganisiert, Datenmüll in soziale Zusammenhänge gesetzt. Das geschieht scharf, ironisch, aber nicht zynisch: „Irgendeinen Aktionsraum“, weiß Heidi Hoh, „muss Verzweiflung doch haben.“ Die stets rasant schnell ausgespuckten Wortkaskaden klingen wie eine kleine Ontologie des frühen 21. Jahrhunderts.

Theaterräume sind Wirklichkeitsräume. Wirklichkeitsräume brauchen eine engagierte Hackergeneration. Gut, dass René Pollesch da agiert.

CHRISTIANE KÜHL