Wo bleibt der Mythenrat?

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Wenn Ethik die Menschen entzweit und nur Lagerdenken produziert, lasst uns über Ökonomie sprechen

„Wer ‚Leben, Leben über alles‘ setzt, macht sittliche Autonomie zu einem sekundären Wert und vergreift sich an der Würde des Menschen.“ Bernhard Becker, taz, 8. 6. 2001

In der Debatte über Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik geht mittlerweile jeder, der sich äußert, das Risiko ein, fortan als Gebrandmarkter durch die Gegend zu schleichen – entweder als Amokläufer eines weltfremden ethischen Fundamentalismus oder als zynischer Apologet gewissenloser Gentechnologen, die längst im Begriff sind, ihre Züchtungsfantasien in die Tat umzusetzen.

Dazu ist es gekommen, weil Angst im Spiel ist. Angst – bekanntlich der schlechteste aller Ratgeber – artikuliert sich meist mit irrationaler Heftigkeit, egal ob es um die Zukunft der conditio humana oder um den Fortschritt der Wissenschaft und die Sicherung des wirtschaftlichen Standorts geht. Beide Seiten nehmen für sich die Ethik, nein: die ETHIK, in Anspruch, und beide Seiten haben im Kampf um das Rechtbehalten die „Würde des Menschen“ für ihre rhetorischen Kampagnen dienstverpflichtet. Ohne Beschwörungen geht es nicht mehr, und der Disput wird um so schriller, je grimmiger die streitenden Parteien sich dieselben exorzistischen Formeln um die Ohren hauen.

Die Regierung hat das Ihre getan, um die Auseinandersetzung von der Fachdebatte auf die Ebene einer hoch aufgeladenen Semantik zu verlagern. Aus der richtigen Erkenntnis, dass man nicht jede Forschung den Forschern, nicht alle wirtschaftlichen Entscheidungen den Konzernen überlassen darf, hat Schröder die problematische Konsequenz gezogen, einen „Ethikrat“ ins Leben zu rufen. Er soll zumindest den Anschein erwecken, als sei der Rat, den er erteilen kann, von pfingstlicher Erleuchtung durchdrungen, zumindest aber von höherer Weisheit jenseits einer nur praktischen Vernunft. Folgerichtig setzten sich die fünfundzwanzig handverlesenen und überforderten Damen und Herren sogleich dem Verdacht aus, man habe sie einberufen, um einer unausweichlichen Entwicklung die moralische Legitimation zu liefern.

Allerdings kommt auch nicht aus der Bredouille, wer mit Michael Rutschky (in der Frankfurter Rundschau vom 9. Juni 2001) diejenigen, die sich Sorgen um die biologische Verfassung des Menschen machen, schlichtweg zu „neokatholischen Frömmlern“ erklärt, die nun, nach ihrer Kampagne gegen Kampfhunde und das Kupieren von Welpenschwänzen, mit der befruchteten Eizelle ein neues Objekt für ihre Leidenschaft gefunden haben, die Welt mit Verbotsschildern vollzunageln. Hier stiehlt sich intellektualistische Nonchalance nur elegant aus der Affäre und will nicht wahrhaben, dass dem Streit um Ethik ein Widerstreit der Emotionen zu Grunde liegt, mögen diese nun begründet sein oder nicht. Über die Tatsache, dass sich viele Menschen Sorgen machen, hilft kein Zynismus hinweg – erst recht nicht, wenn die Sorge hinzu kommt, dass die einschlägigen Fragen weder bei den Politikern noch bei den Intellektuellen, weder bei den Konzernen noch bei den Ethikräten besonders gut aufgehoben sind.

Bei den Forschern und ihren Instituten allein selbstverständlich auch nicht. Längst ist die Erkenntnis Allgemeingut, dass es keine Erfindung gibt, die der Menschheit nur zum Segen gereicht. Von der Biogenetik ist, in puncto Erlösung aus dem Jammertal, ebenso wenig zu erhoffen wie von der Atomenergie – vielmehr muss sich diese wie jene fragen lassen, welche der auf sie gerichteten Hoffnungen sie einzulösen vermag und wie ihre schädlichen Konsequenzen zu mindern sind. Für das Projekt des programmierten Menschen freilich gilt, dass weniger die Wissenschaft selbst als ihre romantischen und utopistischen Metastasen seit dem Mittelalter sowohl für euphorische Erwartungen als auch panische Ängste gesorgt haben. Der Golem des Prager Rabbi Löw, Frankensteins Monster, der „Lebensborn“ der Nazis und die Cyborgs der postmodernen Medienindustrie poltern in den Kellern unserer Kultur und geben keine Ruhe, zumal sich immer wieder Intellektuelle finden, die – ob mit dem Hochton der Verkündung wie Nietzsche und Benn oder verklemmt-verklausuliert wie Sloterdijk – Züchtungsromantik publizieren. Eine Gemengelage, die förmlich nach einem Ethikrat schreit, während es eigentlich einen Mythenrat geben müsste, der erst einmal die Forschung von ihren Dämonisierungen trennt.

Zu mehr Nüchternheit im Streit und zur Ausnüchterung der Streitenden könnte beitragen, wenn sich die Einsicht durchsetzte, dass es nicht um Rasse und Züchtung, auch nicht um die hehren Ziele der Wissenschaft, sondern in erster und letzter Instanz um Wirtschaft geht. Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik erschließen neue internationale Märkte, die teils von der Hoffnung auf die Heilbarkeit schwerer Erkrankungen, teils vom Wunsch nach dem unbeschädigten Kind belebt werden. Hoffnungen und Wünsche lassen sich ebenso wenig verbieten wie eine Marktdynamik, die von ihrer Befriedigung lebt: Hier liegt der Kern der Erklärung für die sicher betrübliche, gleichwohl unumstößliche Tatsache, dass gegen den Kapitalismus kein Kraut gewachsen ist. Aber wenn Kapitalisten bekennen, dass sie nichts anderes als Kapitalismus wollen, kann man mit ihnen reden – nicht zuletzt über die Imponderabilien des Markts, über das Risiko ihrer Investitionen und über die Gefahren, die dem Markt drohen, wenn er Heerscharen enttäuschter oder verzweifelter Konsumenten hervorbringen sollte.

Der Golem, Frankensteins Monster und die Cyborgs der Medienindustrie poltern in den Kellern der Kultur

Selbst die verstocktesten Verfechter der nuklearen Aufbereitungsindustrie überprüfen heute, ob sich ihre Technologie rechnet. Vielleicht hätte ein frühzeitiger vernunftgelenkter Diskurs über die Ökonomie der Kernenergie im Verhältnis zu ihrem Gefahrenpotenzial der Gesellschaft einen mühsamen Lernprozess und die trübe Aussicht auf eine noch Jahrzehnte währende Ausstiegsphase erspart. Inzwischen stößt der Ruf nach neuen Kernkraftwerken auch weltweit – siehe Bush jr. in den USA – nicht nur auf massiven Widerstand, sondern auch auf die Skepsis der Industrie.

Die Marktlogik der biotechnischen Entwicklung zwingt zu einer Technikfolgenabschätzung, die der Gesellschaft einen neuen Spielraum gegenüber dem Selbstlauf der Ökonomie, aber auch gegenüber den Kampagnen der ethischen Fundamentalisten verschaffen könnte. Wenn Ethik die Menschen entzweit und nur Lagerdenken produziert, lasst uns über Ökonomie sprechen. Ein Markt, der es den Reichen in den Industrieländern ermöglicht, den Nachwuchs nach Wunsch zu programmieren, ist ein anderer Markt als der, der mit vorbeugenden Diagnosen womöglich lebenslanges Elend vermeidbar macht. Welchen Markt wollen wir? Man muss keineswegs die Ethik bemühen, um hier Unterscheidungen zu treffen und einen gesellschaftlichen Minimalkonsens zu erzielen, der auch von der Forschung und den Konzernen akzeptiert werden kann. Um mehr kann es nicht gehen. Vernunftgelenkte Diskurse sind nicht geeignet, der Menschheit den Weg ins Paradies oder auch nur in eine sichere Zukunft zu weisen. Aber sie können vielleicht, was nicht geringzuschätzen ist, das jeweils Schlimmste verhindern.