Die langen Schatten der Sonnenscheinpolitik

In Südkorea ist ein Jahr nach dem historischen innerkoreanischen Gipfeltreffen die Euphorie in maßlose Enttäuschung umgeschlagen

TOKIO taz ■ Für Südkoreas Präsidenten Kim Dae Jung mag es bitter klingen. Aber ohne die Mithilfe der USA hat sein Sonnenscheinpolitik genannter Entspannungskurs keinen dauerhaften Erfolg. Zu dieser Einsicht kam Südkoreas Regierung spätestens nach dem Regierungswechsel in den USA. Denn der Versöhnungsprozess zwischen den beiden koreanischen Staaten geriet sogleich ins Stocken, als Präsident George W. Bush eine Überprüfung der Nordkoreapolitik ankündigte. Nordkorea setzte als Antwort hochrangige Gespräche mit dem Süden aus.

Nach der Ankündigung der US-Regierung in der vergangenen Woche, den Dialog mit Pjöngjang jetzt wieder aufnehmen zu wollen, und der gestrigen Zustimmung dazu aus Nordkorea, hofft die Regierung in Seoul, dass der Annäherungsprozess ein Jahr nach dem historischen Gipfel der Staatsoberhäupter aus Nord- und Südkorea neue Impulse erhalten könnte. Nachdem im vergangenen Jahr Regierungsgespräche, Wirtschaftsprojekte und Familientreffen ganz oben auf der Wunschliste standen, möchte Seoul in diesem Jahr Folgendes erreichen: einen zweites Gipfeltreffen in Seoul, Entspannung in militärischen Fragen und die Vorbereitung einer Wirtschaftsgemeinschaft. Zudem sollen regelmäßig Familientreffen stattfinden und der soziale Austausch gefördert werden.

Für diese ehrgeizigen Ziele braucht Südkoreas Regierung allerdings die Unterstützung ihrer Bevölkerung. Und das dürfte schwierig werden. Denn die Euphorie des vergangenen Jahres ist in maßlose Enttäuschung über den schleppenden Fortgang der Annäherung umgekippt. Verantwortlich wird hierfür die arrogante Haltung der Führung in Pjöngjang gemacht, aber auch Präsident Kim Dae Jung. Der ist im Gegensatz zu seinem hohen Ansehen im Ausland zu Hause unbeliebt geworden. Die streikenden Arbeiter am gestrigen Jahrestag des Gipfels sind eine Mahnung, dass Kim das eigene Haus nicht vernachlässigen darf.

Schwerwiegender ist allerdings die sich verbreitende Meinung, Pjöngjang lasse sich von der Welt wie das Zentrum der koreanischen Halbinsel hofieren, ohne dafür konkrete Zusagen zu machen. Nordkoreas Machthaber Kim Jong Il und seine Generäle haben ein Jahr außergewöhnlich intensiver internationaler Kontakte hinter sich. Der russische Präsident Wladimir Putin, die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright, europäische Außenminister und eine hochrangige EU-Delegation reisten nach Pjöngjang. Rund 15 Staaten – darunter Deutschland – haben mit Nordkorea inzwischen volle diplomatische Beziehungen aufgenommen. Kein einziger Staat kann aber behaupten, dass er für das Angebot diplomatischer Beziehungen ein verlässliches Versprechen zur Entspannung auf der Halbinsel erhalten hat.

Vielmehr existieren die wichtigsten Hindernisse für eine breite Anerkennung Nordkoreas in der internationalen Gemeinschaft weiter. Das Atomwaffenprogramm kann nicht geprüft werden, die Entwicklung strategischer Langstreckenraketen geht weiter und in der Altschuldenfrage bleibt Pjöngjang unnachgiebig. Wer Menschenrechte oder nur das Recht der Bevölkerung auf angemessene Ernährung erwähnt, wird unwirsch abgefertigt. Die ernüchternde Bilanz: Die Führung in Pjöngjang hat sich im vergangenen Jahr fast ausschließlich zum eigenen Vorteil bewegt. ANDRÉ KUNZ