Wut ohne Konzept

Der Tod des Sozialismus hat uns fantasielos gemacht; die Globalisierung scheint übermächtig. Dabei gibt es Hoffnung, auch für die Dritte Welt – durch die Technik

Es war eine eigenartige Sackgasse,PCs nur für die Informationsverarbeitung zu benutzen

In den Medienberichten über Demonstrationen gegen die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds gibt es ein immer wiederkehrendes Muster. Unvermeidlich wird den Demonstranten die Frage gestellt: „Es ist ja sehr eindrucksvoll, dass ihr so viele Menschen auf die Straße bringt – ABER welche Alternative zur Politik der Weltbank schlagt Ihr vor?“ Und mit atemberaubender Sicherheit klingen dann alle, als seien sie gerade aus dem Tiefschlaf erwacht. Da hört man dann solche Null-Lösungen wie, dass die Weltbank durchsichtiger werden und mehr Länder ein Mitspracherecht erhalten sollten. Und das, obwohl der Geist – die Wut – dieser Demonstrationen viel wuchtiger ist als solches Geschwätz. Und dann gibt es natürlich noch die Leute, die schlicht verkünden, die Globalisierung müsse aufhören! Pflichtgemäß berichten die Medien, dass die Demonstrationen natürlich unterhaltsam waren oder auch eindrucksvoll – aber dass es nicht die geringsten Vorstellungen davon gebe, was stattdessen zu tun sei.

Hinter diesem Phänomen verbirgt sich eine tiefere Wahrheit: Seit dem Tod des Sozialismus glauben wir, keine Alternative mehr zu haben. Es ist daher keine Überraschung, wenn die Menschen auf die Frage nach einer alternativen Politik zur Weltbank nur stottern können. Die Weltbank ist zutiefst mit dem kapitalistischen Gesamtsystem verflochten – und ähnelt dem Schwimmbad auf einem Ozeanriesen. Will man den Pool in eine andere Richtung lenken, muss man das ganze Kreuzfahrtschiff auf neuen Kurs bringen.

Und der Dampfer muss umgesteuert werden – das zeigen schon Beispiele wie Indien: Jeder hatte mir gesagt, ich sollte mich auf einen Schock einstellen. Ich hielt mich für ausreichend vorbereitet, aber bei meinem ersten Anruf nach Hause musste ich feststellen, dass ich keine Worte fand, um das Land zu beschreiben. Dieses unglaubliche, brutale Ausmaß der Armut. In und um Bombay leben vier bis fünf Millionen Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Die Winkel von Kreuzungen, die Auffahrten zu den Autobahnen, die Flächen unter den Brücken und vor allem riesige, sich weithin erstreckende Schlammfelder sind dicht mit Menschen bedeckt. Zwischen den Körpern war kein freier Raum – die meisten schienen in einem dichten Gewebe schmutzbedeckter Glieder auf der nackten Erde zu liegen.

Nach Indien eingeladen hatte mich ein Mr. Schroff, ein unglaublich erfolgreicher Hersteller von landwirtschaftlichen Produkten. Seine Firma produziert chemische Dünger, Schädlingsbekämpfungsmittel und dergleichen. Als alle glaubten, nun habe er es „geschafft“, entschied er, dies reiche nicht aus. In etwa fünfhundert Dörfern gründete er so genannte Agenturen, um den Bauern vor Ort zu helfen: Diese Agenturen verleihen Werkzeuge und kleine Maschinen, liefern Samen und organisieren kooperative Projekte, um das erschreckend knappe Wasser zu bewahren. Aber sie versorgen das Dorf auch mit Informationen über bessere Kulturtechniken. Für seine Projekte wurde der 90-jährige Unternehmer vor einiger Zeit als „India’s Man of the Year“ geehrt.

Schroff wollte die Bauern auf dem Land halten. Seine feste Überzeugung: „Das Problem Indiens lässt sich nicht in den Städten lösen. Wenn überhaupt, dann gelingt dies nur in den Dörfern.“ Dieser Satz ist natürlich ein Echo auf Mahatma Gandhi. Aber er gilt nicht nur in Indien: Ob in Afghanistan, in der Mongolei oder in Kasachstan, in Tasmanien oder Mosambik – überall findet dieser gigantische Marsch vom Land in die Städte statt.

„Wir brauchen neue Dörfer“, so Schroff. „Nicht nur saubere Dörfer, nicht nur neuen Anstrich. Nicht nur lächelnde Kinder auf Plakaten. Die Dörfer müssen in ihrer Struktur neu sein, neu in ihrer Wirtschaft, neu in der Lebensqualität.“ Nur so ließe es sich vielleicht schaffen, die Landflucht nicht nur abzuschwächen, sondern umzukehren.

Um Schroffs Ziel zu erreichen, muss man die Erschöpfung beenden. Arbeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang verdummt die Menschen, reduziert sie auf einen Zustand, in dem sie fast bewusstlos sind. Was wir brauchen, sind Teilzeit-Bauern (so eigenartig das auch klingen mag): Teilzeit-Bauern, die Zugang zu Ausbildung, Kultur und Kunst haben – also zu den Vorzügen der Großstadt.

Die Probleme der Entwicklungsländer sind nicht in der Stadt zu lösen, sondern nurauf dem Dorf

Doch das lässt sich nicht mit „primitiver“ Technologie erreichen. Sondern sie muss klein, mobil, ausgereift und angepasst sein. Oder wie es Schroff krass auf den Punkt bringt: „Wir brauchen nicht die so genannten Solaröfen zum Brotbacken aus Pappkarton und Silberpapier. Ob man darin wirklich Brot backen kann, ist völlig irrelevant! Jede Form der Herablassung ist nur geeignet, meine Leute zu erbittern. Wir schreiben in Indien bessere Software, als Ihre besten Leute zustande bringen, und Sie bieten uns Öfen aus Pappkarton an! Der schiere Blödsinn. Meine Leute sagen: Wenn Sie keine Öfen aus Pappkarton verwenden, warum sollen wir es dann tun? Wenn Ihr Ofen vier Schalter hat, dann will ich vielleicht einen mit sechs, und wenn möglich einen mit eingebauter Mikrowelle und Grill!“

Gebraucht wird Technik, die absolut fortgeschritten ist – weiter fortgeschritten als alles, was es derzeit im Westen gibt, und speziell für die Dritte Welt konstruiert. (Nehmen wir die Funktechnologie: Bei uns ist das vor allem eine Laune, ein Spielzeug, das schnell zu einer Belästigung wird. Welchen wirklichen Wert hat es denn, wenn ich beim Tauchen in zwanzig Meter Tiefe die neuesten Fußballergebnisse abrufen kann? In der Dritten Welt wird die Funktechnologie ihren natürlichen Ort und Markt finden, denn hier, wo es keine Infrastruktur und keine Leitungen gibt, ist sie wirklich nützlich.)

In den letzten fünf oder sechs Jahren ist eine unglaublich schnelle technologische Entwicklung abgelaufen. Eines von vielen Beispielen ist die so genannte Beschichtungs-Solartechnologie (thin-film). Sie ist nicht so schwer, unförmig und dick wie die alten photovoltaischen Zellen, sondern dünn wie das Zellophan, in das man Butterbrote einwickelt. Mit dieser Technologie kann Licht – nicht bloß Sonnenlicht, sondern auch das Licht eines bewölkten Himmels – in Elektrizität verwandelt werden. Es ist keine Fantasie, dass schon heute ganze Dächer, alle Fenster eines Hauses, die gesamte Fassade eines Wolkenkratzers auf diese Weise beschichtet werden könnten.

Wichtiger noch ist, dass wir soeben eine eigenartige Sackgasse verlassen: Bisher haben wir PCs fast ausschließlich zur Verwaltung von Informationen benutzt. Doch ist die Verwendung von Computern für die Produktion mindestens ebenso lohnend. Ein viel sagendes Beispiel ist etwa das Brennen von CDs, was unter Teenagern inzwischen schon Routine geworden ist. Computer werden jedoch auch schon eingesetzt, um T-Shirts und andere Materialien zu bedrucken, Fotos oder Bücher herzustellen. Alle möglichen weiteren Entwicklungen sind im Gange: Bald lassen sich Kontaktlinsen durch den eigenen PC produzieren, genauso wie Schmuck und einfache Uhren oder die eigenen Kleider. All dies lässt vermuten, dass in Zukunft ein großer Teil der Waren nicht mehr von internationalen Riesenkonzernen hergestellt wird, sondern immer stärker in der eigenen Werkstatt zu Hause oder – wirtschaftlicher noch – in einem Gemeindezentrum.

Sobald die „digitale Produktion“ mit „open source“-Computersystemen verbunden sind, werden wir uns dem Zustand nähern, dass wir dezentral praktisch alle erforderlichen Geräte selbst herstellen können – bis hin zu Walkmen und Kameras, Radios und Fernsehern, und mit Sicherheit auch Fahrräder und Autos. Dank dieser Technologien wird es dann auch auf den Dörfern möglich, eine attraktive Lebensform zu entwickeln, die mit Ressourcen und Geld sparsam umgeht, aber dennoch hoch entwickelt und fortgeschritten ist.

Ein indischer Unternehmer: „Wir brauchen keine Solaröfen aus Pappkarton. Das ist herablassend.“

Natürlich ist das nur eine „Möglichkeit“. Aber ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass es mindestens zwei Möglichkeiten gibt und nicht nur eine. Ein Weg führt von Fusion zu Fusion, bis ein letzter, allumfassender gigantischer Konzern übrig bleibt, der dann unter seinem eigenen Gewicht in der Erde versinkt. Während die andere Möglichkeit in jener Art Landschaft besteht, die uns die neuen Dörfer von Schroff vor Augen führen.

Hat uns der Tod des Sozialismus so geschockt, dass mit dem Untergang dieser sehr zweifelhaften Möglichkeit auch unsere Fähigkeit vernichtet wurde, „andere Wege“ zu denken und zu leben? FRITHJOF BERGMANN

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning