Coming g®ay

Jedes Coming-out verläuft unappetitlich. Und vielleicht heutzutage sogar brutaler? Schon die ganz Kleinen rufen den anderen hinterher: „Schwule Sau!“ oder „Biste lesbisch oder wat?“ Die PIC-(Political-Incorrectness-)Invasion hat haraldschmidtig die kurze Phase der Liberalisierung wieder in die Fünfzigerjahre zurückgelacht, das TV-Volk amüsiert sich in heterosexueller Verblödungserhabenheit. Retro ist in.

Als ich in den späten Sechzigerjahren bemerkte, dass ich das eine Mädchen um mich herum nicht als Ersatz für den Richtigen liebte, war ich sehr befremdet von mir. Wenn ich überhaupt was ahnte, schwante mir ein Begriff von Perversion. Ich weiß nicht, wie dieser Begriff in meine Welt dringen konnte. Meine Mutter las schon damals diese bunten Blätter, in denen auch heute noch voll Gier das Abscheuliche präsentiert wird. Dort muss sie die Perversionen entdeckt haben, mit denen sie allerdings nur die Reichen verband, denn die Armen, meinte sie, müssten arbeiten und seien anständig. Deren einziges Laster war das Trinken, dem besonders die Männer an Wochenenden verfielen. Dann redeten sie vom Pimpern, und ihre Frauen lachten laut oder schienen beschämt. Meine sexuellen Fantasien wurden dadurch nur beleidigt. Die Jungen, die ich damals kannte, hörte ich nur von Fußball reden. Wie die Mädchen um mich herum diese Jungen attraktiv finden konnten, blieb mir ein Rätsel.

Als die Beatles aber jubilierten: She loves you, yeah, yeah, yeah!, war das eine Freude, die ich Jungen gar nicht zugetraut hätte, und ich war neidisch auf so viel Glück und favorisierte deswegen I can’t get no satisfaction von den Rolling Stones.

Auf dem Lyzeum kamen fast alle anderen Mädchen aus besseren Elternhäusern, die mir tatsächlich besser erschienen. Warum mir die Tochter meines Mathematiklehrers „Tonio Kröger“ zum Lesen schenkte, weiß ich nicht. Dort las ich es schwarz auf weiß, der dunkle Tonio sagte zum blonden Hans: „Ich liebe dich“, und dieser schrie nicht angewidert auf, sondern war dankbar dafür, wenngleich er die Liebe nicht zu erwidern schien. Deswegen musste Tonio auch weg in die große Stadt, wo es Künstler gab. In meiner Jugend galten Künstler als nicht spießig, als unangepasst, und sie durften es auch sein, solange sie tüchtig waren. Irritierend aber war, dass auch viele von ihnen, wenn sie der Homosexualität verdächtigt wurden, heftige Aversionen zeigten. Mir war klar, dass ich mich mit Literatur wappnen könnte. Denn wer traute sich schon, etwas gegen Thomas Mann zu sagen?

Das Coming-out in jenen frühen Siebzigerjahren wurde für mich endlich real, weil ich zum ersten Mal eine Freundin wollte und bekam. Da sie sich aber nicht als lesbisch verstehen wollte, lebten wir unsere Liebe mit allem Drum und Dran, ohne homosexuell zu sein. Das war für eine gewisse Zeit romantisch, dann aber sehr zerstörerisch. Umso aufgeregter war ich, als ich mitbekam, dass in Münster an der Uni, wo ich studierte, es tatsächlich so etwas gab wie die HSM (Homosexuelle Studentengruppe). Ich war beeindruckt und erschrocken darüber, wie man sich so auf die Sexualität reduzieren konnte. Als die erste Homosexuellendemonstration in Deutschland überhaupt und dann noch durch Münster marschierte, übergab mir Martin Dannecker ein Flugblatt, und ich fühlte mich wie ertappt, fast wie geoutet. Doch ermutigt durch den Protest der anderen, suchte ich den Kontakt zur HSM, die aber schon im Zerfall begriffen war.

Ich kann mich an einen Fernsehbericht erinnern, in dem die HAW (Homosexuelle Aktion Westberlin) und der Berliner Sub gezeigt wurden. Ich war begeistert über das Outsein der Frauen. Mit einer Freundin fuhr ich nach Berlin, um zu gucken, wie man das machte. Im Sub allerdings hingen nur ein paar ältere betrunkene Frauen am Tresen und zwinkerten uns Neuen unglücklich entgegen. Sie wirkten auf mich alles andere als befreiend. Ich fuhr desillusioniert zurück. Mit meinen Freundinnen von der HFM (Homosexuelle Frauengruppe Münster), die sich aus der HSM gebildet hatte, suchten und fanden wir den Anschluss an die feministische Debatte, die gerade aus den USA zu uns rübergeschwappt kam. Eine Woge der Selbstbehauptung ließ uns mutig genug werden, gegen die Stadt Münster zu klagen, die uns wegen Verstoßes gegen die guten Sitten einen Informationsstand verboten hatte. Mein soziales Coming-out war unmittelbar verbunden mit einem politischen Coming-out der HFM.

Wie groß der Fortschritt war, ist nur im Rückblick zu sehen. Doch was noch immer fehlt, sind die gleichen Rechte für Lesben, Schwule und Transgenders, um einfach g®ay zu sein oder zu werden. This stone has still to fall! HALINA BENDKOWSKI