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Im Club für Verlierer

Boxer und Nonnen im „Dreiunddreißigsten Kapitel“: Alexej Schipenko hat für das Bochumer Schauspielhaus Bausteine aus dem „Don Quijote“ zusammengesteckt

Camilla kommt nicht klar mit dem Text, aus dem sie hervorgegangen ist. Sie blättert in der „Geschichte vom grübelnden Fürwitzigen“, stößt aber sofort auf Ausdrücke, mit denen sie nichts anfangen kann: lauter „Vergnügungen der Liebe“ und so weiter, altmodische Wendungen, durch Gebrauch und Kommentierung entleert. „Die Kultur hat dem Menschen die Persönlichkeit genommen“, schreit Camilla und legt den Text wieder weg.

Das hätte Alexej Schipenko, Berliner Dramatiker russischer Herkunft, wohl auch gerne getan. Aber er hatte dem Bochumer Schauspielhaus ein Stück zu „Don Quijote“ versprochen. Also hat er den Klassiker doch durchgeblättert und einen Abschnitt herausgegriffen, eben die „Geschichte vom grübelnden Fürwitzigen“. Aus Bausteinen dieser Novelle hat Schipenko sein Stück „Dreiunddreißigstes Kapitel“ gebastelt. Dabei findet nicht nur die betagte Sprache, sondern auch die Handlung keine Gnade. So abstrus sei die Geschichte, lässt Schipenko in einer Vorrede erklären, „dass jeder auch nur halbwegs normale Mensch oder Leser an dieser Stelle die Lektüre des unsterblichen Textes von Don Miguel beenden könnte“.

Abwegig verhält sich vor allem Anselmo: Frisch und glücklich mit der tugendhaften Camilla verheiratet, möchte er die Keuschheit seiner Frau dennoch auf die Probe stellen. Er bittet seinen besten Freund, Camilla zum Schein zu verführen. Das muss übel enden. Ahnt doch jeder.

„Der Autor aber – so wie jeder Autor – musste aus professionellen und finanziellen Gründen fortfahren.“ Neben Geld kann Schipenko der Novelle vom Fürwitzigen immerhin einen Punkt abgewinnen: Die Selbstzerstörung des Anselmo lässt sich als Symptom einer allgemeinen Desorientierung lesen. Schipenko siedelt die Handlung in der „Axel-Schulz-Gesellschaft“ an, einem Club für Verlierer. Hier setzt nicht nur der Frischvermählte sein Glück aufs Spiel, sondern sein Freund, ein Boxer, lässt sich absichtlich verdreschen. Er hält die andere Wange hin, um seine Reinheit zu bewahren. Zwischendurch bedrängen beide einen gelangweilten Priester mit ihren Geständnissen. Eine besonders bösartige, christliche Kultur hat ihnen wohl die Persönlichkeit genommen.

Schipenko kommt ihnen zu Hilfe. Während in der Novelle alle zentralen Figuren vor lauter Gram das Zeitliche segnen, lässt Schipenko nur einen sterben: Der Boxer erschlägt seinen besten Freund, nachdem er mit dessen Frau Sex hatte. Knapp vorbei an Inzest und Vatermord. Zum ersten Mal ist der Boxer ein Sieger und beinahe ein Ödipus. Damit verstrickt er sich natürlich noch übler in abgenutzten Wendungen. Schipenko legt unter der ersten Schicht Kultur nur eine weitere frei, aber das stört ihn nicht weiter.

Bei der Bochumer Uraufführung war der Boxer eine besonders heroische Figur: Lukas Gregorowicz vollbrachte in dieser Rolle mit jedem humpelnden Schritt eine Heldentat, denn er war erst am Morgen am Meniskus operiert worden. Für die Zuschauerbilanz ist dem Haus offensichtlich kein Einsatz zu hoch. Eigentlich setzt die Inszenierung von Ernst Stötzner aber auf das komische Potenzial des Texts: den Kontrast zwischen dem rauen Ton der Bearbeitung und den Überbleibseln des 17. Jahrhunderts zum Beispiel. Oder die Telefonate, die das Geschehen nur unterbrechen, um Anlass für zweckfreie Blödeldialoge zu bieten. Die Schauspieler werten solche Vorlagen zuverlässig aus, fügen im Zweifelsfall auch noch einen Kalauer hinzu.

Zaghaften Widerstand leistet die Inszenierung nur gegen Schipenkos Frauen. Im Text ist Camilla eine Mischung aus Heiliger und Hure, enorm tugendhaft und doch willig. An ihrer Seite eine Nonne, die laut Regieanweisung unter der Tracht „äußerst reizvolle Unterwäsche“ trägt. Soviel Klischee bleibt nicht unkommentiert: Bianca Nele Rosetz spitzt den Männertraum Camilla zur plappernden Karikatur zu, und Julie Bräuning distanziert sich in ein paar hinzugefügten Worten von der Nonnenrolle.

Ausziehen muss sie sich allerdings trotzdem. Damit ist sie zwar die Nonnentracht los, aber steht als Schauwert da. Wenn man eine Schicht Kultur ablegt, kommt darunter noch lange nicht die unverstellte Natur zum Vorschein. Das gilt für Nonnen, für Boxer und für Texte.

MORTEN KANSTEINER

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