Die Wurzeln der Haut

Wasser und Wollknäuel: Ein Porträt der in Berlin lebenden japanischen Künstlerin Chiharu Shiota

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Manchmal hat Chiharu Shiota einen Traum. Sie träumt, es wäre die Nacht vor der Eröffnung, und noch ist die ganze Ausstellungshalle leer. Die Halle wird größer und größer, und sie steht da mit nichts als einem Wollknäuel in der Hand, um diese Leere zu füllen. Dann drückt ihr noch jemand ein Flugticket in die Hand: „Du musst sofort nach Japan fliegen.“ Eisig durchzuckt es sie, „ich muss absagen“.

Während Chiharu Shiota von ihrer Panik erzählt, balanciert sie vorsichtig auf der Stuhlkante und redet so leise, dass ich mich weit zu ihr vorbeugen muss. Sie tastet sich im Deutschen vorwärts, als könnten die Wörter unter ihr wegbrechen wie morsche Planken über einem Sumpf. Sprache wird plötzlich etwas ungeheuer Fragiles. Chiharu Shiota geht großzügig mit ihren Träumen um. Weit weg von Japan hat die junge Künstlerin den Verlust der Orientierung und die Angst vor dem Verschwinden der Konturen des Eigenen als ein Motiv ausgemacht, das sie in ihren Installationen kultiviert wie in einem Märchen.

Acht Kleider, die fast bis unter die Decke reichen, sind in der Asian Fine Arts Galerie über einem Wasserbecken aufgehängt. Die acht fassen sich an den Ärmeln wie Schwestern, die zusammen in die Welt hinausziehen und ein Abenteuer bestehen müssen. Erde haftet an den Kleidern, Wasser läuft an ihnen herab. Weit war ihr Weg bisher, und die Flecken in ihren Kleidern verzeichnen die Karte der Erfahrungen. „Erinnerungen kann man nicht wegspülen“, sagt Chiharu Shiota. Erinnerung kann man aber auch nicht immer leben.

Die Japanerin erzählt, wie sie in der Berliner U-Bahn die Fahrgäste beobachtet. „Zu Hause schaue ich dann in den Spiegel und sehe schwarze Augen, schwarze Haare: Eine Asiatin!“ Das klingt fast überrascht, als würde ihr das eigene Ich in der Menge der anderen immer wieder entgleiten. Sie hat sich in Installationen mit schwarzen Wollfäden eingesponnen wie in einen Kokon. Sie hat in Ausstellungen geschlafen, gefangen in diesen Gespinsten, die zwischen einem Bett und den Wänden ein undurchdringliches Dickicht bildeten. Dornröschen hinter der Dornenhecke. Die flirrenden Raumzeichnungen aus den schwarzen Linien waren bedrohlich und tröstlich zugleich. Sie boten Schutz und setzten sie fest. Sie bildeten aber auch labyrinthische Strukturen ab, die an jedem Punkt, nach jeder kleinen Bewegung neue Entscheidungen verlangten. Elektronische Netze, neuronale Bahnen, Beziehungsgeflechte: Von allen Seiten treten die Forderungen nach Flexibilisierung auf und bedrängen uns.

Für die Installation „Zweite Haut“ hat Chiharu Shiota einen Rahmen, der frei im Raum schwebt, mit ihren Wollfäden durchzogen. Auf dem Boden liegt noch ein Knäuel und deutet eine Ende des Fadens an. Mittendrin schwebt eine leere Hülle, ein überdimensioniertes Nachthemd. Man blickt zuerst unter den Rock wie in eine Muschel, bevor man die ganze Figur erfasst.

„Die zweite Haut“ meint Chiharu Shiota, „weiß mehr von mir als ich selbst.“ Denn der Körper hat ein Gedächtnis, in dem mehr steckt, als das, worauf das Bewusstsein Zugriff hat. Ein Foto zeigt die abgeschnitten Fäden einer früheren Installation. Mehr bleibt nicht, wenn das Ende einer Ausstellung gekommen ist. Chiharu Shiota macht vorher weder Zeichnungen noch Notizen, aus Furcht, ihre inneren Bilder dabei zu verlieren. Sie hat kein Atelier und arbeitet nur vor Ort. Seltsame Ökonomie, die nur das Vergängliche zulässt. In konsequenter Steigerung des Flüchtigen bereitet sie zurzeit mit der Tänzerin Yuko Kaseki ein Stück vor, das ab 26. Juni im Dock 11 zur Aufführung kommt.

Chiharu Shiota, 1972 in Osaka geboren, begann ihre Ausbildung in Kioto. Ein Austauschsemester brachte sie nach Canberra in Australien und eine Verwechslung an die Hochschule der Künste in Hamburg. Sie wollte sich bei der Bildhauerin Magdalena Abakanowicz bewerben und kam zu Marina Abramovic. Das hat sie aber in ihrem Vorhaben, mit den Wahrnehmungen des Körpers zu arbeiten, bestärkt. In Deutschland wurde sie schnell bekannt. In Berlin führte ihr Weg in zwei Jahren aus den Ruinen und den Ausstellungsräumen des Tacheles und dem Keller einer alten Schule in der Auguststraße über die Galerie Asian Fine Arts bis ins Haus der Kulturen der Welt.

Dieses Jahr ist sie auf der Triennale of Contemporary Art in Yokohama vertreten und mit der Ausstellung „Translated Acts“ im Queens Museum in New York. Sie selbst hat dabei das Gefühl, dass ihre Umgebung sich schneller ändert, als sie folgen kann.

Zwei Jahre zurück liegt „Bathroom“, eine Performance für Video. Sie sitzt in einer versumpften Wanne und übergießt sich mit erdigem Wasser. Erde läuft über ihre Augen, die Nase, den Mund. Die Nahaufnahmen, manchmal auch in Zeitlupe, lassen zunächst erschrecken, denn man glaubt einen verwundeten und blutenden Körper zu sehen. Langsam stellt sich die Beruhigung ein über die rituelle Wiederholung. Sie vertraut sich den Elementen an, nimmt Metaphern vom „Wurzelnschlagen“ und „Erdewerden“ beim Wort.

Gelungen sei ihr das am Tag der Aufnahme erst, so erzählt sie, als sie schon aufgegeben hatte und ihrer Kamerafrau die Kassetten ausgingen. In diesem Zustand von Erschöpfung und Selbstvergessenheit war sie bereit für die Transformation.

Die Ausstellung von Chiharu Shiota ist bis zum 7. Juli zu sehen bei Asian Fine Arts, Sophienstr. 18, Mitte; Di.–Fr.14–19 Uhr, Sa. 11–17 Uhr