Berlin- Neukölln hat wieder Utopien

Mode macht’s möglich

Der Berliner Bezirk Neukölln hat einfach keine Lust mehr. Man kann das verstehen. Immer als das am meisten verwahrloste Areal des modernen Deutschlands herhalten zu müssen, macht auf Dauer selbst Nonkonformisten keine Freude. Schlimme Alkoholprobleme gibt es schließlich auch anderswo und schlimme Flugzeugabstürze sowieso. Tatsächlich ist ja ganz Berlin voller Trinker, Swinger-Clubs, Waffen und billiger Imbissbuden. Nicht nur das so gebeutelte südöstliche Stadtgebiet.

Deswegen haben die großen Neuköllner Modehäuser C&A, Hertie und Sinn-Leffers an einem der letzten Wochenenden der Welt einmal gezeigt, wie schön der Sommer 2001 auf den Straßen des Viertels in Wirklichkeit aussieht. Die Mode ist dieses Jahr nämlich luftig und in heiteren Farben. Überhaupt ist Mode Leben. Und das Leben findet in Neukölln statt. Jeder hier weiß das. Allerdings macht man sich in dieser Gegend nicht viel aus Perfektion. Diese gelassene Einstellung beeinflusst das Leben angenehm. Denn die Neuköllner Kombination aus schlechtem Ruf, tatsächlichem Rauschmittelkonsum und fehlendem Geld schafft viel Platz für Nachsicht in den Köpfen der Bevölkerung. Darum waren auch die Mannequins, die auf dem Laufsteg im Erdgeschoss vom Neuköllner Hertie-Kaufhaus die neuen Sommer-Kollektionen vorführten, nicht professionell. Es handelte sich um Hobby-Models aus der Umgebung.

Sie hatten sich auf eine Zeitungsannonce beworben und sind ausgewählt worden. Denn mit gewöhnlichen Menschen kann sich die lokale Kundschaft besser identifizieren, sagen die Werbeexperten von C&A, Sinn-Leffers und Hertie.

Damit die Bewegungen der neuen Models hübsch schwungvoll gelangen, war eine ambitionierte italienische Choreografin engagiert worden. Seit April hatte man nun also geprobt, dreimal pro Woche, vier bis sieben Stunden pro Abend. Allein zwei Wochen lang übte die Gruppe nur schwierige Drehungen. Denn während Profis das „spontane Aktivbleiben“ auf dem Laufsteg einfach beherrschten, hätte sie bei den Neuköllnern „immer alles genau erklären“ müssen, lautete der leicht angespannte Kommentar der italienischen Choreografin. Aber am Ende ist dann doch noch alles sehr erfolgreich gelaufen: Das Erdgeschoss von Hertie war voller Menschen. Der DJ spielte von seinem Mischpult aus sanfte Musik von Xavier Naidoo ein. Und die Rentnerinnen mit den festen Frisuren, die die Stuhlreihen vor der Bühne belegten, hatten sich schon den ganzen Tag gefreut.

Dieser Zielgruppe galt denn auch der erste Teil der Modenschau: Die weiblichen Models zeigten lange Kleider im Stil der Zwanzigerjahre, gerüschte Schirme und Federboas, die dazugehörigen Männer Gamaschen und Zylinder. Dann folgte gepunktete Pettycoatkleidung. Das mochte den Jüngeren im Publikum zwar unzeitgemäß erscheinen, aber Neukölln ist eben ein Bezirk, in dem jede noch so bizarre Stilrichtung ihre modische Anwendung findet. Kurz darauf ging es ja dann auch schon weiter mit gewohnten Zeichen aus dem Globalisierungsalltag. Zu der notorischen Technomusik (Jugendlichkeit, Avantgarde!) liefen grüne Chemiefaserhosen und lila Businesskleidung über den Laufsteg. Auch einige Kinder führten Synthetikprodukte vor. So konnten am Schluss wirklich alle Altersgruppen zufrieden sein mit der neuen Sommerkollektion. Die männlichen Hobby-Mannequins mit ihrem leicht eckigen Gang und der Halbglatze fand man dann plötzlich auch viel besser als richtige Models.

Die Neuköllner haben ihre Sache also großartig gemacht. Der im Programm angekündigte Versuch, mit „City Neukölln en vogue“ den „ewigen Kreislauf des Lebens und den Kreislauf der Mode“ darzustellen, ist gelungen. Damit kann das Modehaus C&A nun schon den zweiten prächtigen Publikumserfolg dieses Jahres verbuchen. Schließlich hat das Unternehmen erst vor wenigen Monaten in Berlin die beliebte „Woche der Hose“ durchgeführt.

Nach der Modenschau fand man beim Umherschlendern in der gut sortierten Hertie-Buchabteilung auch noch das zukunftsfrohe Buch „Gründe zum Glücklichsein“.

Das sind alles Zeichen eines wunderbaren Fortschritts. Die unerfreuliche Debatte über das Verschwinden der Utopien kann zumindest für den Berliner Bezirk Neukölln als beendet erklärt werden.

KIRSTEN KÜPPERS