piwik no script img

Leidenschaftliche Indifferenz

Durchschnittsmenschen in amerikanischen Durchschnittsstädten, wo vom Leben wie einer Gebrauchsanweisung gesprochen wird – und dazu ein Realist, der keinen Realismus mag: Richard Maxwell kommt mit„Boxing 2000“ von New York nach Berlin

von CHRISTIANE KÜHL

Es erinnert an das Gefühl, eine stehende Rolltreppe hinaufzusteigen. Man sieht eine silberne Stufe, hebt den Fuß, setzt ihn ab und er landet genau dort, wo er nach den Gesetzen der Physik landen müsste – und trotzdem spürt man am ganzen Körper, dass etwas nicht stimmt. Beim ersten Schritt ist das am auffälligsten, der Fuß platscht förmlich auf das Metall. Aber auch bei jedem weiteren, wenn der Kopf doch klar erkannt hat, dass diese Treppe sich nicht bewegt und nicht bewegen wird, bleibt es unmöglich, sie wie jede andere hochzugehen. Mit der Hand auf dem Gummiband, zwischen zwei niedrigen Metallwänden kann jeder Meter Höhe nur gegen einen immensen Untersog bezwungen werden.

Das Theater Richard Maxwells erinnert an eine funktionsuntüchtige Rolltreppe. Man guckt auf die Bühne und begreift ziemlich schnell, was hier nicht passiert: Drama. Es gibt kein großes Bühnenbild, keinen Plot, keine Charakterdarsteller, keine Poesie. Stattdessen blickt man auf einen Haufen recht unbeweglicher Menschen, die mit tonloser Stimme Banalitäten austauschen, wiederholen, lange Pausen machen und nach langgezogenem „Äh“ verstummen. Rein theoretisch gibt es also nichts, was den Zuschauer fesseln könnte – und trotzdem entwickeln Richard Maxwells Inszenierungen einen Untersog, dem man sich nicht entziehen kann.

Als „Boxing 2000“ vergangenen September in New York uraufgeführt wurde, diagnostizierte die New York Times beim Publikum „diesen beschleunigten, hoffnungsvollen Herzschlag“, der von dem seltensten aller Phänomene rühre: „watching a genuinely original new talent at work“. Eine ganze Seite widmete der Kritiker „Boxing 2000“, und nur vier Tage später erschien eine fast ebenso große Geschichte über den 32-jährigen Autor und Regisseur selbst. A star was born, sollte man meinen. Aber die Metropole ist härter. Wer in New York nicht Broadway-kompatibel arbeitet – und das ist ungefähr der letzte Ort, wo man sich Maxwells phlegmatische Vorstädter vorstellen kann – agiert bis auf weiteres in Rattenlöchern.

Auch „Boxing 2000“, Richard Maxwells vorletztes Stück, das mit Geldern vom Berliner Hebbel Theater koproduziert wurde und dort heute Deutschlandpremiere feiert, wurde in einer besseren Garage uraufgeführt. Sie trägt den Namen Present Company Theatorium und liegt in der Lower East Side. Im September ist es hier noch verdammt heiß, und der unaufhörliche Salsa-Beat aus den weit geöffneten Fenstern der Häuser und cruisenden Autos macht deutlich, dass das ehemalige jüdische Emigrantenviertel längst von Latinos erobert wurde. Statt Dairies gibt es heute an jeder Ecke „Rice and Beans“. Die Off-off-Theaterszene begann vor etwa 15 Jahren hier nach finanzierbaren Räumen zu suchen. Das „Abc No Rio“ war eines der ersten etablierten Performance Spaces, das „Nada“ ist bis heute eines der wichtigsten. Dazwischen liegt mittlerweile eine ganze Reihe anderer kleiner Theater, die als solche nicht unbedingt zu erkennen sind. Das Present Company Theatorium etwa sieht von außen aus wie eine Werkstatt, während die Lobby innen mit den umliegenden Trödelläden identisch ist.

Für Maxwell, der 1995 aus Chicago nach New York kam, hat das Arbeiten in diesen provisorischen Zusammenhängen seinen Charme längst verloren. Um die Miete zahlen zu können, laufen in der Present Company drei Shows am Abend hintereinander – manchmal aber auch nebeneinander, und dann hat der Pech, der die stillste Arbeit zeigt. Die Probenbedingungen sind nicht besser: Maxwells New York City Players hatten täglich drei Stunden. Was wiederum nicht am Theater lag, sondern daran, dass alle Beteiligten tagsüber Geldjobs nachgehen. Allein Maxwell kann von seinen Inszenierungen und gelegentlicher Lehrtätigkeit an der Uni oder über PS 122 vermittelt leben. „Aber es bleibt hart, und die ständigen Einschränkungen werden von der Arbeit auch reflektiert. Manchmal bleibt eben nur Zeit, den Text auswendig zu lernen und dann auf der Bühne aufzusagen.“

Natürlich ist das ein grobes Understatement. Mehr als von zufälligen äußeren Zwängen ist Maxwells reduziertes Spiel von einem klaren Konzept bestimmt. Es ergibt sich aus seiner illusionsfreien Weltwahrnehmung und einem ebensolchen Begriff von Theater. Maxwell ist ein Realist, der mit Realismus nichts zu tun haben will. „Ich beobachte Menschen auf der Straße, wie sie sich bewegen, wie sie reden, wie Sätze und Aktionen angefangen und in der Mitte abgebrochen werden. Das fasziniert mich, und ich möchte diese Authentizität auf die Bühne transportieren. Gleichzeitig weiß ich, dass es diese Authentizität auf der Bühne nicht geben kann. Real ist im Theater allein die Bühnensituation. Und es gibt keinen Grund, warum Schauspieler eine andere Realität simulieren sollten.“ So schreibt Maxwell seine Texte vom Leben ab und bemüht sich dann, beim Inszenieren all das wegzunehmen, was die Schauspieler und Zuschauer gemeinhin für „wahr“ halten – weil diese „Wahrheit“ eben nur aufgrund theaterspezifischer Konditionierung als solche erscheint.

Ob das, was übrig bleibt, nun besonders natürlich oder besonders künstlich ist, weiß Maxwell selbst nicht zu sagen. Wichtiger ist es ihm auch festzuhalten, dass es bei seinem speziellen Ansatz nicht um das Kreieren eines neuen Stils geht, sondern um eine einfache Logik für Bühnenhandlungen. „Wenn zum Beispiel jemand einen Auftritt hat – wie soll er das machen? Ich würde sagen: Er muss gehen. Über die Bühne. Von A nach B.“

Sich auf solche nichtpsychologischen Motivationen einzulassen, fällt weder Profis noch den Laien leicht, die Maxwell stets zusammenarbeiten lässt. Auch dass sie ihre Texte mit demselben Enthusiasmus vorbringen sollen, mit dem andere Menschen Gebrauchsanweisungen verlesen, irritiert anhaltend. Zwei Tage vor der Uraufführung in der Stanton Street versucht der aufgebrachte Regisseur seiner an der Grenze zur Meuterei stehenden Gruppe noch einmal den entscheidenden Kick zu vermitteln: „Ihr müsst auf der allerhöchsten Stufe eurer Aufmerksamkeit agieren. Leidenschaftliche Indifferenz, darum geht es! Get inside! Fight harder! Let it pop!“

„Boxing 2000“ erzählt von einem kurzen Höhepunkt im Durchschnittsleben zweier durchschnittlicher Halbbrüder einer durchschnittlichen amerikanischen Kleinstadt. Das heißt, es könnte von einem Höhepunkt erzählen, wenn es in Maxwells Theater Höhepunkte gäbe und diese Brüder in der Lage wären, Niederlage und Triumph auch nur graduell zu unterscheiden. So wie die Dinge aber nun mal liegen, liegen sie alle auf einem Level. Der Schlips für Vaters Geburtstag, die Scheidung, die Sportklubanekdote und der verlorene Job werden alle mit gleichem Engagement und gleicher Absicht abgehandelt: die Stille soll nicht zu lang werden. Dass Freddy der begehrten Marisa im Verlauf des Stücks an die Brüste grabscht und am Ende im Boxring landet, kann nicht einmal seinen eigenen Adrenalinspiegel heben. „Deadpan delivery“ nennt man das, wenn vom Kalauer bis zum Verlust der Ehefrau alles mit demselben Gesichtsausdruck erzählt wird.

Doch Maxwell beherrscht das Spiel mit den Klischees: So komisch es ist, wie hier Binsenweisheiten variert werden, werden die Figuren doch nie lächerlich. Unter ihrer Decke der Stumpfheit vibriert es. Etwas arbeitet in diesen Menschen, nur Sprache ist nicht ihr Metier. Wenn Jojo sagt, er suche „one pure moment“ in seinem Leben, dann weiß man, dass er selbst diesen Satz vermutlich aus einer Deowerbung hat, aber gerade deswegen hat der Satz eine fast tragische Dimension.

Richard Maxwell war bereits 1999 mit seiner großartigen Produktion „House“ beim Theater der Welt in Berlin und im letzten Jahr mit „Showy Lady Slipper“. Im Herbst 2000 wurde er mit einer Einladung zum Festival in Avignon geadelt. Geplant war sein Leben mal anders: Eigentlich wollte er Rockstar werden. Aber irgendetwas ließ ihn zum Theater abdriften. Statt wie geplant rockend die Welt zu verändern, schreibt der sanft auftretende Mann jetzt Americana. Staring Cowboys, Suburbs, Baseballfelder, Community work und unzählige monotone „How’s it goin’ man?“.

Wie es zu dieser Amerika-Fixierung kam, kann Maxwell erklären. „Ich bin in Fargo, North Dakota, geboren und groß geworden. Die Familie hatte sich dort in den Fünfzigern und Sechzigern ein Nest gebaut. Ein ganz typisches amerikanisches Kleinstadtleben. Dad war Richter, ich das jüngste von sechs Kindern. Meine Eltern sind bis heute glücklich verheiratet.“ Alles ging seinen geregelten Gang, bis der Sohn 11 war. Dad übte sich damals ein wenig im Amateurboxen und befand, dass sein Sohn Talent hätte. Da nahm er den Knirps beiseite. „ ‚Er sagte: Hör zu, ich kann dich trainieren. Wenn du alles andere in deinem Leben aufgibst, mach ich dich zum Champion.‘ – Ich war zu Tode erschrocken.“ Richard Maxwell, der heute einen original amerikanischen Small-Town-Schnauzer trägt, zuckt mit den Schultern: „Mein Vater hatte einen sehr trockenen Sinn für Humor.“ Den der Sohn glücklicherweise geerbt hat. Nicht Boxer wurde, aber Champion.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen