Urst spannender Osten

I a Landeier im nahen, fremden Land: Die erfolgreichste ostdeutsche Krimiserie „Polizeiruf 110“ wird 30. Der Ost-Tatort hat sich längst von der Volksaufklärung zum Thriller gemausert (20.15 Uhr, ARD)

von THORSTEN PILZ

Ein Junge schleicht sich in einen Elektroladen, wartet, bis die Angestellten weg sind und räumt dann, zusammen mit dem Vater, das Geschäft aus. Und die Mutter? Die hängt an der Flasche, schläft bis in die Puppen und weint die meiste Zeit. Als Dank für seine Unterstützung erhält der Halbwüchsige von seinem Vater Alkoholika: „Wenn du trinkst, bist du fröhlich.“ Dann geschieht ein Unglück, bei dem der Junge fast getötet wird, das illegale Kleinunternehmertum auffliegt und die Frau mit leerem Blick, aber festem Willen in die Kamera spricht: „Ja,ich habe verstanden.“

Die ganze Geschichte klingt nach 50er-Jahre-Schmonzette, ist aber gerade mal 14 Jahre alt. Aus einer Zeit also, als die DDR in den letzten Zügen lag. Die Folge „Unheil aus der Flasche“ aus der Krimireihe „Polizeiruf 110“, die vor kurzem noch einmal im Spätprogramm besichtigt werden konnte, zeigt deutlich, welche Funktion Krimis in der DDR allgemein und der Polizeiruf im Besonderen hatte: Volksaufklärung. Als es am 27. Juni 1971 losging mit der Serie, die man als Pendant zum verpönten West-„Tatort“ sehen wollte, hatten sich die Programmverantwortlichen ein anspruchsvolles (und vor allem didaktisches) Ziel gesetzt: Die Sendungen sollten zur Kriminalitätsbekämpfung und Ursachenforschung beitragen und die Staatsmachtso darstellen, dass Staats- und Rechtsbewusstsein sowie Sicherheitsgefühl vermittelt wird. Leider auch häufig das Gefühl der Langeweile. Denn auch hinter noch so spannend angelegten Geschichte, lauerte alsbald der Zeigefinger der Staatsaufklärung. Nicht die Suche nach dem Täter, sondern die Frage nach dem Warum stand im Mittelpunkt des „Polizeirufs“. Da hatten dann auch persönliche Marotten und private Schwierigkeiten nichts zu suchen. Die Ermittler waren allesamt Männer (Verzeihung, Genossin Leutnant Vera Arndt) ohne Eigenschaften, die zudem passionierte Nichtraucher und strenge Antialkoholiker waren.

Und doch versuchte sich der Ost-Tatort an der Quadratur des Kreises: Denn häufig wurden via „Polizeiruf“ Konflikte gezeigt, Probleme angesprochen, die es offiziell nicht gab: Alkoholismus, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Selbstmord. So lassen sich auch die fußballländerspielhohen Einschaltquoten erklären: Eine Gesellschaft besichtigt sich selbst.

Mit der Folge „Thanners neuer Job“ im Dezember 1991 endete die Ära des DFF-Polizeirufs. Doch im Ersten beschloß man, die Reihe weiter zu führen, erwies sie sich doch „auch für das ARD-Programm als ein attraktives Muster der Krimiunterhaltung“, so der Fernsehfilm-Koordinator Jürgen Kellermeier. Die Ermittler wurden also nach „Tatort-Manier“ übers ganze Land verschickt, entwickelten jedoch schnell eine ganz eigene Identität.

So ist auffällig, dass von den sechs „Polizeiruf“-Kommissaren lediglich Michaela May und Edgar Selge in einer Großstadt (nämlich München) ermitteln, während die anderen ihren Dienst eher in Kleinstädten und ländlichen Regionen (Brandenburg, Sauerland) verrichten.Und dieses „Provinzielle“ scheint den Geschichten gut zu tun – häufig wirken sie konzentrierter, befreit von allerlei Schnickschnack wie beim großen Bruder „Tatort“. Dort nervt seit einiger Zeit der Betroffenheitsritus der Teams vor allem aus Köln und München.

Beim „Polizeiruf 110“ sind solche Ermüdungserscheinungen noch nicht sichtbar. Dessen Ost-Geschichten sind auch zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer, immer noch spannende Expeditionen in ein fremdes, nahes Land. Aber auch die Kollegen im Westen warten häufig mit gut erzählten Storys auf – schon jetzt ist der Film „Gelobtes Land“ über Asylbewerber in Deutschland ein Klassiker der Reihe, ausgezeichnet mit mehreren Preisen.

Doch nun wird erst mal gefeiert: „Kurschatten“ heißt der Jubiläums-„Polizeiruf“ und führt die Hauptkommissare Schmückle und Schneider in den beschauliche Kurort Bad Kösen. Mit Videoaufnahmen vom Seitensprung werden Patienten erpresst und um etliche tausend Mark erleichtert. Das Schöne an dem Film ist weniger der Plot als die Idee, ehemalige und aktuelle Ermittler als Opfer, Verdächtige und Täter in einem Film aufeinander treffen zu lassen. So gibt es ein Wiedersehen u. a. mit Sigrid Gähler (der „Vera Arndt“ aus den Anfangstagen), Andreas Schmidt-Schaller und Dieter Montag. Dieser Polizeiruf ist denn auch mehr Familientreffen als rasante Mörderjagd. Erst ganz am Schluß wird dann geschossen und fließt Blut. So ganz ohne sind eben auch I a Landeier nicht.