Entspannung pur

Während Pete Sampras der Schmach eines frühen Ausscheidens knapp entgeht, wird Andy Roddick (18) schon als potenzieller Nachfolger gefeiert

aus Wimbledon MATTI LIESKE

Ein Übermaß an Pietät kann man dem All England Club nicht unbedingt nachsagen, dafür aber ein Gespür für den Wandel der Zeiten. „Als ich die Ansetzungen bekam, habe ich erst bei allen anderen Plätzen geschaut und mich gefragt, wo bin ich bloß“, berichtete ein erstaunter Andy Roddick, seines Zeichens die größte Hoffnung im US-Tennis, seit vor rund 15 Jahren ein kleiner langhaariger Punk mit bunten Haaren über die Tennisplätze tobte, der Andre Agassi hieß.

Roddicks Zweitrundenmatch gegen den Schweden Thomas Johansson war zu aller Überraschung auf den Centre Court gelegt worden, der amtierende Champion Pete Sampras hingegen wurde auf den ungeliebten Court 1 verbannt. Wimbledon huldigte dem künftigen König, der alternde Monarch musste weichen. Eine ebenso symbolhafte wie prophetische Geste, denn während Roddick einen glanzvollen Triumph gegen den Schweden feierte, der zuvor immerhin zwei Rasenturniere gewonnen hatte, quälte sich Sampras über die Runden und wäre um ein Haar gegen den Briten Barry Cowan, die Nummer 265 der Welt, ausgeschieden. Nicht einmal eine 4:0-Führung im fünften Satz konnte dem Titelverteidiger Sicherheit geben, ein seltsam unsouveräner Sampras musste noch einige bange Minuten überstehen, bis er das Match endlich mit 6:3, 6:2, 6:7, 4:6, 6:3 gewonnen hatte.

Der 18-jährige Thronfolger dagegen durfte sich nach seinem 7:6, 6:1, 4:6, 7:6 gegen Johansson ein ganzes Konzert von Lobeshymnen zu Gemüte führen. „Mit Sicherheit ein künftiger Top-Ten-Spieler“, sagte der Schwede beeindruckt. Goran Ivanisevic, heute nach seinem Erfolg gegen Carlos Moya Roddicks nächster Gegner, bezeichnete ihn als „Zukunft des Tennissports“.

Das hat Andy Roddick inzwischen schon oft gehört, doch die Vorschusslorbeeren beschäftigen ihn „überhaupt nicht“. Der gute alte Bhagwan hätte seine Freude an dem braven Kid aus Omaha, Nebraska, gehabt. „Ganz entspannt im Hier und Jetzt“, lautete die Devise des einstmals reichsten Gurus der Welt, „entspannt“ ist auch das Lieblingswort von Roddick. „In Nebraska gibt es keine Leute mit Allüren“, sagt er und bemüht sich zumindest bisher, daran nichts zu ändern, obwohl seine Familie nach Texas zog, als er fünf war und mittlerweile längst in Florida wohnt.

In den Spuren seines Bruders John, der ein erfolgreicher Juniorenspieler war, kam Andy Roddick fast zwangsläufig zum Tennis. Die Entscheidung, nicht aufs College zu gehen, sondern Profi zu werden, fiel jedoch erst vor rund anderthalb Jahren. „Ich war keines dieser Wunderkinder, die zum Tennisstar erzogen werden“, sagt er, aber doch „ein ganz ordentlicher Junior“. Was in dieser unscheinbaren Formulierung versteckt ist: dass er der erste Jugendweltmeister der USA in neun Jahren war. Lange Zeit blieb er sehr klein, der späte Wachstumsschub auf 1,85 m bescherte ihm dann mit dem mörderischen Aufschlag, der zu den härtesten der Welt gehört, eine „zusätzliche Waffe“, wie er es nennt.

Sein Coach, der Exprofi Tarik Benhabiles, brachte ihm bei, diesen Aufschlag und die anderen Vorzüge seines Spiels, vor allem die exzellente Vorhand, in Einklang zu bringen. „Ich habe ein Menge kopfloses Tennis gespielt, bis Tarik kam“, sagt Roddick, den Coach freut besonders, dass Andy „ein kraftvoller Spieler ist, aber auch Finesse besitzt“.

Ganz entspannt geht Roddick nun seinen Weg auf der Tennistour, aber keineswegs allein. „Er ist der Erste einer neuen amerikanischen Brut“, nennt es Sampras, eine Brut, auf die das Land lange gewartet hat, nachdem die goldene Generation mit Agassi, Sampras, Chang, Courier und Martin in die Jahre gekommen ist. Zur neuen Gang der umgedrehten Basecaps gehört noch Michael Russell (23), der den Champion Gustavo Kuerten bei den French Open am Rande des Abgrundes hatte und mit einem Matchball nur um Grundlinienbreite scheiterte. Mardy Fish (20), der in Wimbledon gegen den Franzosen Escude noch deutlich überfordert war, und Taylor Dent (20), der seinerseits kurzen Prozess mit Sergi Bruguera machte.

Der Star dieser Gruppe von Spielern, die alle miteinander befreundet sind – „noch“, warnt der in diesen Dingen erfahrene Sampras –, ist aber eindeutig der Jüngste. Andy Roddick schaffte in diesem Jahr den Sprung in die Top 30, gewann die ATP-Turniere von Atlanta und Houston, besiegte einmal, in Key Biscayne, Sampras und sorgte in Paris für Furore, als er krampfgeplagt in fünf Sätzen gegen Michael Chang gewann, bevor er gegen Lleyton Hewitt verletzt aufgeben musste. Was den Konkurrenten vor allem Angst macht, sind nicht die Stärken seines Spiels, sondern die offenkundigen Schwächen, die es besitzt, Rückhand und Volley beispielsweise. „Er kann noch eine Menge verbessern“, sagt Andre Agassi, „und das ist ein gutes Zeichen, wenn man bedenkt, auf welchem Niveau er bereits spielt.“

Nach Chang in Paris wartet nun mit Ivanisevic ein weiteres Idol seiner Kindheit als Gegner. Dessen verlorenes Wimbledon-Finale 1992 gegen Agassi, das Roddick als Neunjähriger im Fernsehen verfolgte, sei „eines seiner Lieblingsmatches“, erzählt er, „ich freue mich wirklich auf das Spiel“. Angehen wird er es natürlich ganz entspannt – und vermutlich wieder auf dem Centre Court. Mal sehen, wo sie Sampras diesmal hinstecken.