Von Revolution keine Rede

Neues Sozialgesetzbuch IX sieht nur geringe Leistungsverbesserungen für Behinderte vor. Eine Aufstockung der Mittel gibt es nicht. Wesentliches Ziel der Reform ist eine schnellere und unbürokratische Hilfe. Behindertenverbände zeigen sich enttäuscht

von NICOLE MASCHLER

Die langen Wege sind das Schlimmste. Das Versorgungsamt ist in Mainz, das Arbeitsamt ebenfalls. Für den Transport zur Schule ist der Landkreis zuständig, für den Parkausweis das Ordnungsamt. Wenn die Tochter einen Rollstuhl braucht oder eine Operation ansteht, beginnt der Kampf mit den Behörden. „Eine Anlaufstelle gibt es nicht“, sagt Gertraud S. Ihre Tochter leidet an einer Wachstumsstörung. Zu der Krankheit kommt die Ungewissheit, ob und wann es Hilfe gibt. Wie ein Bittsteller komme man sich häufig vor, sagt die Mutter.

Der Kompetenzwirrwarr bei den Behörden soll nun ein Ende haben. Das neue Sozialgesetzbuch (SGB) IX, das am Sonntag in Kraft tritt, will das 1994 im Grundgesetz festgeschriebene Benachteiligungsverbot für Behinderte umsetzen.

Rund 6,6 Millionen Schwerbehinderte leben in Deutschland. Sie leiden unter einer körperlichen Beeinträchtigung, brauchen einen Rollstuhl oder Krücken, sind blind oder sehbeeinträchtigt, gehörlos oder haben so genannte geistige Beeinträchtigungen. Entsprechend zersplittert war bisher das Behindertenrecht. Das SGB IX soll die sozialen Angebote der verschiedenen Leistungsträger (z. B. Kranken- und Rentenversicherung) unter einem Dach zusammenfassen.

So wird es künftig gemeinsame Servicestellen aller Rehabilitationsträger auf Kreisebene und in kreisfreien Städten geben. Sie sollen gewährleisten, dass die Betroffenen schnell und unbürokratisch Hilfe erhalten. Bisher dauerte es im Schnitt 49 Wochen, bis ein Antrag auf Leistungsbewilligung bearbeitet war. Der Grund: Kein Träger fühlte sich zuständig, immer wieder wurden Formulare von einer Behörde zur anderen geschickt. Derzeit werden rund 200.000 Klagen vor Gericht ausgefochten, bei denen sich Betroffene mit Trägern über Zuständigkeiten streiten.

Künftig müssen die Reha-Träger diese Fragen untereinander klären, sagte gestern der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Karl Hermann Haack. Bewilligungsanträge müssen nun innerhalb von sieben Wochen entschieden werden. Andernfalls darf der Behinderte die Leistung künftig selbst besorgen. Der Reha-Träger muss die Kosten übernehmen. „Die Dienstleistungen sollen dem Menschen folgen und nicht umgekehrt.“

Seit Mitte der 80er-Jahre hatten Parteien und Sozialverbände um die Einführung eines SGB IX gerungen. Noch im Wahlkampf 1998 hatten SPD und Grüne ein umfassendes Leistungsgesetz versprochen. Schon im Koalitionsvertrag war davon dann keine Rede mehr.

Völlig übertrieben ist es auch, dass Haack gestern von einer „Revolution“ sprach. Denn das neue Gesetz sieht nur kleinere Leistungsverbesserungen vor. Eine Aufstockung der Mittel von derzeit 55 Millionen Mark ist nicht geplant.

Der Gewinn der jetztigen Neuregelung liege vor allem darin, Reibungsverluste zu verhindern, räumt auch die behindertenpolitische Sprecherin der SPD, Helga Kühn-Mengel, ein. „Ein echtes Leistungsgesetz wird es frühestens in der nächsten Legislaturperiode geben.“

Die Widerstände gegen eine umfassende Neuordnung des Systems waren groß. So befürchteten die Kommunen Mehrkosten von 500 Millionen Mark – vor allem durch den Wegfall der Bedürftigkeitsprüfung bei Eingliederungshilfen der Sozial- und Jugendhilfe. So lehnte es der Deutsche Städtetag ab, „zum Zahlmeister für neue großzügige Sozialleistungen des Bundes gemacht zu werden“.

Doch es geht nicht nur ums Geld. Die Kommunen haben auch verfassungsrechtliche Bedenken. Sie fürchten, dass der Zwang zur Kooperation ihren Handlungsspielraum einschränkt. Langfristig fordert der Städtetag denn auch ein einheitliches Leistungsgesetz für Behinderte, das eine „dauerhafte, verlässliche Finanzierung aus einer Hand“ garantiere, so Manfred Wienand, Leiter des Dezernats Soziales beim Städtetag. Die Förderung behinderter Menschen sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Will heißen: Der Bund muss ran. Wienand verweist denn auch auf die Schweiz, wo sämtliche Leistungen für Behinderte in der Invalidenversicherung zusammen gefasst seien.

Die Behindertenverbände halten das neue Gesetz für nicht ausreichend. Schließlich arbeiteten die Servicestellen in denselben Räumlichkeiten und mit denselben Mitarbeitern, die schon bisher bei den einzelnen Trägern zuständig waren, sagt Klaus Reichenbach, Verwaltungsleiter der „Interessenvereinigung Selbstbestimmt Leben“.