Der großartige Verlierer

Lemmon hat immer wieder Nervenbündel gespielt, die in ihren Neurosen aufgehen, sie zum Schutzpanzer stilisieren

von KATJA NICODEMUS

Wer derart filmreif anfängt, dem bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als zum paradigmatischen Loser des Kinos zu werden: Als John Uhler Lemmon III am 8. 2. 1925 geboren wurde, bemerkte die Krankenschwester, das Baby sehe aus wie eine Zitrone. Die Umstände der Geburt wurden immer wieder leicht abgewandelt kolportiert: Lemmon kam als einziges Kind eines Doughnut-Fabrikanten im Krankenhausfahrstuhl zur Welt, weil seine Mutter sich nicht von ihrer Bridge-Runde losreißen wollte.

Am falschen Ort, zur falschen Zeit und ohne etwas dafür zu können in die Welt geworfen zu werden, war sozusagen Lemmons Grundbefindlichkeit. Als Verlassener, Betrogener, Verstoßener, Geschiedener, Ignorierter und Geduldeter bleibt er im Gedächtnis, aber innerhalb dieser Tonlage erschloss er sich seine Rollen so, dass alle darin Platz hatten, vom Slapstick-Heini bis zum allerletzten Verzweifelten auf Gottes Erden. Lemmons Bandbreite, das ist die komische Ungeschicklichkeit des Fähnrichs Frank Thurlowe Pulver in der Militärkomödie „Mister Roberts“, die ihm schon 1955 einen Nebenrollen-Oscar einbrachte. Oder die bodenlose Resignation des abgewrackten Maklers in „Glengarry Glen Ross“. Was hat der grantelige grumpy old man, der sich mit Walter Matthau Kämpfe um eine Witwe liefert, mit dem Alkoholiker Joe in Blake Edwards’ „Days of Wines and Roses“ gemeinsam? Oder der halbseidene Actionheld in schwarzer Lederjacke in „Airport 77“ mit dem verzweifelten Vater aus „Missing“ von Constantin Costa-Gavras?

Vielleicht die unendliche Trauer und Lebensangst im Blick. Es ist dieser tiefe, unbestimmte Weltschmerz, der alle Probleme und Problemchen seiner Leinwandfiguren existenziell werden lässt. Sogar die absurde Diskussion darüber, ob die Nudeln, die Walter Matthau in „The odd couple“ aus Wut über seinen pedantischen und putzsüchtigen Wohnungsgenossen an die Wand wirft, einfach Nudeln oder Linguine heißen. „Ich bin vielleicht neurotisch, aber du bist verrückt“, beschimpft Lemmon Matthau in diesem Film, und natürlich liegt auch darin ein Stück Wahrheit über Lemmons Rollen. Ein Teil seiner Nervosität und permanenten Beunruhigung ist eindeutig psychosomatischer Natur.

Jack Lemmon ist der perfekte Hypochonder, und auch da griff die Wirklichkeit gewissermaßen der Leinwand vor: Als Kind musste er auf Grund mehrerer Gebrechen lange im Krankenhaus liegen und hatte als Dreizehnjähriger bereits zehn Operationen hinter sich. Seine Kurzatmigkeit auf der Leinwand, der immer wieder grundlos hastige Redefluss, das leichte Spucken und die plötzlichen Tempowechsel hängen auch mit den Atemwegsbeschwerden zusammen, die er zeitlebens nie losgeworden ist. Vielleicht bestimmt dieses latente Angegriffensein auch die seltsame Körperlichkeit seiner Figuren. Es sind Menschen, die unter ihrer Physis leiden, sich ihres Körpers, ihrer Gesten aber auch sehr bewusst sind. Lemmon hat immer wieder Nervenbündel gespielt, die in ihren Neurosen mehr oder weniger aufgehen, sie zum Schutzpanzer und zur Kommunikationsform stilisieren. So wie in „Das Apartment“, wo er als naiver, kränkelnder Verehrer von Shirley MacLaine Ewigkeiten braucht, bis es nach Kartenspielen und Seelentröstereien zur vorsichtigen Annäherung kommt. Aber immerhin stehen am Ende des Eiertanzes ein Knall und eine Champagnerflasche, die man wohl gemeinsam leeren wird. Billy Wilder hat diese manchmal fast eunuchenhafte Psychotravestie am besten begriffen und in einer Szene in „Manche mögen’s heiß“ am schönsten herausgekitzelt: Wenn Marilyn Monroe vertrauensselig ins Schlafwagenbett des als Frau verkleideten Lemmon kriecht, unter seine Decke schlüpft und sich nichts ahnend an seine falschen Brüste kuschelt. So viel zu den Körperstrategien, die bei Lemmon manchmal naiver aussehen, als sie sind.

Wirklich zur Sache geht es, wenn Lemmons hypochondrische, immer leicht lebensuntüchtige Figuren aus dem komödiantischen Kontext herausfallen. „Save the Tiger“ von John G. Avildsen ist einer dieser Filme, in denen er das Zusammenstürzen des American Dream und seiner angekoppelten Leistungsideologie ganz mit sich alleine ausmacht. Lemmon spielt einen Industriellen, dessen Ehe gescheitert ist und der seine letzte Chance in einem Versicherungsbetrug sieht. Da verbringt er die Nacht mit einem Hippiemädchen in einem Strandhaus, raucht Marihuana und träumt noch einmal von der Vergangenheit, vom Swing und der großen Zeit des Baseballs, bis ihm dann doch ganz unpathetisch die Tränen kommen. Ein Loser, für den die Einsicht in sein Losertum zumindest einen Moment lang etwas Befreiendes hat. Dafür gab’s 1973 den Oscar.

Viel später, als man seine Karriere im Grunde für beendet hielt, legte er in „Short Cuts“ einen ähnlichen Auftritt hin, der zum Gravitationszentrum von Robert Altmans Film wurde. Und das ganz beiläufig in einer völlig unaufgeregten Verzweiflung: Als durchgebrannter Familienvater kehrt er nach Jahren zu seinem Sohn zurück, als sei nichts gewesen. Lautes Wiedersehen, Versöhnung, Lachen, Konversation. Aber er bleibt der an den Rand gedrängte Zuschauer, der beim dramatischen Lebensrettungsversuch für seinen Enkel draußen vor der Krankenhaustür steht. Irgendwann geht er einfach. Müde, mit schleppendem, breitbeinigem Schritt. Wenn Jack Lemmon auf diese Weise einen Film verlässt, dann war’s das wirklich.

Jenseits der Leinwand bekam er das Kunststück hin, fast fünf Jahrzehnte lang unsichtbar zu bleiben. Über den Privatmann Lemmon ist wenig bekannt. Ein Sohn, zwei Ehen, kein Klatsch. In einem Interviewfilm mit Billy Wilder erfährt man immerhin von seiner Leidenschaft fürs Golfspielen und von seiner Begeisterung für moderne Kunst. Nur in den Siebzigerjahren wagte sich Lemmon mit einem plötzlichen politischen Engagement für kurze Zeit aus der Deckung. Mit „Missing“ kritisierte er vor der Kamera und in der Öffentlichkeit die diktatorenfreundliche amerikanische Außenpolitik in Lateinamerika. „Well, we wish it could have had a happy ending“, soll Nancy Reagan auf die Frage geantwortet haben, ob „Missing“ ihr gefallen habe. In „The China Syndrome“ stellte er sich gemeinsam mit Jane Fonda an die mediale Speerspitze der amerikanischen Antiatombewegung. Seither steht er für politische Korrektheit, auch wenn er sich danach nie wieder aus dem Fenster lehnte.

In den letzten Jahren ist es dann still um ihn geworden, wie man so sagt. In der Kreuzfahrtkomödie „Out to Sea“ hatte er noch eine nette Rolle als Eintänzer. Hier konnte er zum letzten Mal sein ewiges Deplatziertsein zelebrieren, das sich auch vom dämlichen Drehbuch nicht aus der Fassung bringen ließ.

Vor vier Jahren war Jack Lemmon Ehrengast der Berliner Filmfestspiele, die ihm ihre Hommage widmeten. Da saß er dann bei der Pressekonferenz, im unauffälligen Karojackett, freundlich lächelnd, vom Blitzlicht der Fotografen irritiert wie ein kleiner Angestellter, der sich in der Tür geirrt hat. Auch hier wirkte er wieder wie einer, der eine Rolle spielt, die sich irgendein komischer Kumpel für ihn ausgedacht hat, wie einer, der gute Miene zum bösen Spiel macht, so wie damals, als er in „The odd couple“ mit Walter Matthau die beiden Schwestern aus der oberen Etage anbaggert und vor lauter Aufregung die Zigarette im Feuerzeug einklemmt. Auf der Berlinale ging natürlich alles gut, er verhedderte sich nicht im Mikrofon, stotterte nicht und rutschte beim Rausgehen auch nicht aus. Aber man fühlte ganz deutlich, er wäre lieber woanders gewesen.

Bei der Übergabe des Goldenen Ehrenbären passierte etwas Merkwürdiges: Zuvor war die Stimmung keinewegs angespannt, wie es halt so ist bei jemandem, der zwar ein großartiger Schauspieler ist, aber eben kein Superstar und kein Glamourwesen. Beim Applaus schienen sich dann doch alle plötzlich an die Lemmon-Gestalten auf der Leinwand zu erinnern, an die liebenswerte Daphne aus „Manche mögen’s heiß“, an die unzähligen Sonntagswiederholungen von „The odd couple“, an seinen ängstlichen Blick auf Shirley MacLaine in „The Apartment“, an seine großartigen Verlierer, die über sich hinauswachsen, an was auch immer. Das Klatschen hörte jedenfalls nicht auf, es wurde immer stärker und führte schließlich zu diesen einmaligen acht aufeinander folgenden Standing Ovations. Am Ende stand er da, gelöst und glücklich.

Jack Lemmon ist am Mittwochabend in einem Krankenhaus in Los Angeles im Alter von 76 Jahren an den Folgen eines Krebsleidens gestorben.