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Der Honigvogel wirft dunkle Schatten

Flandern, Anfang der Siebzigerjahre: Ein kleiner Junge schwärmt für seine Lehrerin und wohnt bei der Großmutter. Bald jedoch ist es in Erwin Mortiers erstem Roman mit der Idylle vorbei, denn immer mehr verdüstern die Schatten der Vergangenheit die scheinbar heile Familiengeschichte

Nach dem Sündenfall erscheint auchsein Honigvogeletwas zerrupft

von JÜRGEN BERGER

„An Fräulein Veegaete war nichts gerade, sondern alles gerundet und gewölbt“, meint der Junge. Bald darauf kommt es auf der Toilette zu einem Duett der besonderen Art. Er sitzt auf dem etwas tiefer gelagerten Kelch der Schülerschüssel, sie auf dem etwas höheren der Lehrerschüssel. Beim Einsetzen des benachbarten Sturzbaches beginnt auch der Junge entspannt zu pieseln. Er ist Schüler der Lehrerin auf dem Klo nebenan und hat als Erzähler in Erwin Mortiers Debütroman das außerordentliche Talent, Dinge prägnant und poetisch auf den Punkt zu bringen. Fräulein Veegaete etwa ist für ihn ein „Riesenhonigvogel“, dessen Flügel bei der Begrüßung kurz um sein Kinn und seine Wangen „flattern“. Kommt sie zur Großmutter des aufkeimenden Jungen und wird Maß für des Honigvogels neues Sommerkleid genommen, schleicht er sich ins Schneiderzimmer und würde zu gerne einmal sehen, wie das mit den Schenkeln des Fräuleins weitergeht.

Den Namen des Jungen erfahren wir nicht. Dass die Großmutter, unter deren Fittichen er seine Tage verträumt, Andrea heißt, wissen wir nach ungefähr einem Drittel des Romans. Lange Zeit denkt man, es gehe ausschließlich um die Geschichte des Jungen, dessen Vater und Mutter nur einmal nebenbei auftauchen. Dann aber schält sich heraus, dass die flämische Familie während der Nazizeit ein Problem hatte: Es hieß „Marcel“ wie der Roman und war mit der deutschen Wehrmacht in den Weiten Russlands, kam von dort aber nie zurück. Die genauen Familienverhältnisse lässt Mortier geschickt im Dunkeln. Zu vermuten ist, dass Marcel des Knaben Onkel war. Allem Anschein nach war er kein astreiner Nazi, sondern ein flämischer Nationalist, der für den „Schnurrbart aus Deutschland“ eigentlich nichts übrig hatte.

Wie alt Marcel zum Zeitpunkt seines „Heldentodes“ war, erfahren wir nicht. Und auch das Alter des Ich-Erzählers kann man nur schätzen. Er dürfte zwischen fünf und zehn Jahre alt sein, und wäre damit genauso alt, wie der 1965 geborene Mortier Anfang der Siebzigerjahre war. Etwa in dieser Zeit spielt auch die Geschichte des Jungen im flämischen Flachland, warum sonst würde sich der Großvater einmal über die Musik dieser Halbaffen beklagen, die sich „Bietels“ nennen. Wir werden also in eine Zeit versetzt, in der deutsche Jugendliche gegen verlogene Väter rebellierten. Eine Zeit, die es Mortier durchaus erlaubt hätte, seine Geschichte als direktere flämische Variante der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu schreiben.

Stattdessen wählte er für sein Romandebüt eine eher untergründige Erzählform. Sein Trick: Alles wird aus Sicht des Jungen erzählt. Und der stellt noch nicht die großen Fragen nach Schuld und Verantwortung, sondern registriert staunend, wie sich die belgische Kollaborationsgeschichte im Flandern der Nachkriegsjahrzehnte weiterspinnt. Fährt der Junge mit den Großeltern im Zug nach Drongen – das liegt in der Nähe von Gent, wo Mortier bis zu seinem Romandebüt in einem Museum gearbeitet hat – und machen sie dort einen Verwandschaftsbesuch, verschwindet der Junge mit dem siebzehnjährigen Wieland in dessen Jugendzimmer. Wieland heißt nicht von ungefähr Wieland. Er sammelt Wehrmachts-Devotionalien und ist sichtlich stolz darauf, dass andere Jugendliche ihn als „Schwarzsack“ bezeichnen. So wurden flämische Faschisten während der deutschen Besatzung genannt.

Der Ich-Erzähler geht auf Wielands halbstarkes Getue allerdings nicht ein. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Familiengeschichte für ihn immer noch ein Abenteuerroman, bei dessen Lektüre man häufig überrascht, manchmal aber auch desillusioniert wird. Das Ende seiner Jugendzeit wird dann allerdings doch noch während des Familienbesuches eingeläutet. Der Deckel der familiären Schatztruhe öffnet sich einen Spalt und ein Brief taucht auf, den Marcel kurz vor seinem Tod aus Russland geschrieben hat. Ab da wird der Junge von Neugier getrieben, klaut der Großmutter den Brief und löst mit dem Sündenfall eine Kettenreaktion aus, an deren Ende auch sein Honigvogel etwas zerrupft erscheint.

„Jaja“, sagt die Großmutter gegen Ende und meint das Fräulein Veegaete. „Zuerst deutscher als die Deutschen, dann französischer als Louis Quatorze. Das muss man erst mal können.“ Erwachsen werden, erzählt Mortier im Subtext, heißt auch Abschied nehmen. Apart gerundete Fräuleins sind nicht alleine deshalb integer, weil man sie anbetet. Und integre Großmütter brechen nicht deshalb die Geschäftsbeziehung zu einer Kundin ab, weil die bigott ist. Der Honigvogel mit dunklem Schatten wird also auch nächstes Frühjahr wieder wegen eines neuen Sommerkleides bei der Großmutter vorbeischauen. Ob der Junge dann allerdings einmal mehr im Ankleidezimmer vorbeischauen will, ist die Frage.

Erwin Mortier: „Marcel“. Aus dem Niederländischen von Waltraut Hüsmert. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 2001. 118 Seiten. 29,80 DM

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