Eine Art Forschungsauftrag

Die Rationalisierung des Gehens: Claudia Basrawi betreibt „Psychogeografie“, indem sie nach Art der Situationisten Berliner Straßen abgeht und dabei selbstironisch ihre Befindlichkeit vor Ort notiert

von JANA SITTNICK

Das Wort „Geografie“ kommt aus dem Altgriechischen und hieß in der Schule früher „Erdkunde“. Claudia Basrawi bietet eine interessante Übersetzung an: „Seele des in die Erde Geschriebenen“. Um die „Seele“, die des Menschen und die des Ortes, sowie um das interaktive Spiel zwischen beiden geht es der „Psychogeografin“. Sie untersucht eine Art der Orts- und Seelenerkundung, die vom räumlichen Einfluss auf menschliches Denken und Fühlen ausgeht.

„Psychogeografie“, so Basrawi, sei eine „Wissenschaft, die sich aus den Koordinaten Psyche und Geografie zusammensetzt“. Ach so. Ein „spannender Begriff“ sei das, den „Streifzügen“ des englischen „Opiumessers“ Thomas DeQuincey entnommen und 1954 von Literaten auf der „Internationale lettriste“ als „Wissenschaft der Beziehungen und Umgebungen“ ausgerufen. Die Gruppe der Lettristen und später der Situationisten sahen in der „Psychogeografie“ den Motor einer „auf das Spiel gegründeten Gesellschaft“, die „Zerstreuung“ als „das königliche Zeichen“ setzt, „das zu einem Gut aller werden muss“. Das ins Dogmatische driftende Ziel einer Nachkriegsavantgarde, die moralisch-ideelle Gesellschaftsveränderung, wurde nicht erreicht. Den Anspruch zu missionieren hegt Claudia Basrawi nicht: Sie will über den eigenen Gedankenhorizont hinausgehen, spielerisch, selbstironisch, trickreich.

In ihrem im Mai unternommenen Selbstversuch lief sie durch die Stadt und notierte, was sie dachte und fühlte. Zuvor hatte sie, gemeinsam mit ihrer Freundin Gundula Schmitz, das Logo der Künstlergruppe „Laura Mars“ auf einen Berliner Stadtplan kopiert. Dann liefen die beiden die Linien des geschwungenen „L“ ab, das auf Berlin-Mitte gelandet war. „Wir kamen dabei durch Straßen, die wir normalerweise nie gesehen hätten, in einem Wohngebiet mit Plattenbauten. Das war nicht schön.“ An einen Weg erinnert sie sich besonders deutlich, „weil der überhaupt nicht einladend war“, und da habe sie so etwas wie „Mitleid“ empfunden.

Basrawis Methode unterscheidet sich von der des Flaneurs in einem wesentlichen Punkt: in der Rationalisierung des Gehens. „Beim Flanieren lässt man sich treiben, folgt inneren Impulsen, geht dort entlang, wo es einem gefällt“, erklärt Basrawi. „Anders in der Psychogeografie: Wir haben uns einen ganz bestimmten Plan genommen, ein äußeres Muster, das nichts mit uns selbst zu tun hatte, und liefen dieses Muster ab.“ Durch die ungewohnte Umgebung sollten „neue Situationen“ geschaffen werden, die die Imagination anheizen und Denk- und Wahrnehmungsmuster durcheinander wirbeln. Beim Dia-Vortrag in den Räumen der „Laura-Mars“-Galerie präsentierte die Forscherin ihr Dokumentationsmaterial, zeigte die Stationen ihres Stadtlaufes und kommentierte sie mit Bemerkungen wie „es ist 14.27 Uhr, wir haben Durst, und Gundula ist müde“. Das war sehr amüsant.

Die 38-jährige Autorin nimmt sich und ihren selbst gestellten Forschungsauftrag nicht superernst. Zwar ist sie von der inhaltlichen Stärke der Methode, in der es um nicht weniger als Bewusstseinserweiterung geht, überzeugt. Doch sieht sie ihre Übung als Spiel, ähnlich wie der englische Künstler und „Neoist“ Stewart Home, der in kurzen, eingängigen Texten beschreibt, wie man zum Kultstar werden kann. Das alberne, Logik und Ordnung aus den Angeln hebende Element, das in „Dada“ aufscheint, bei Warhol, im Punk, das findet sich auch bei Claudia Basrawi. In ihrem Text „Situanose“, den man in dem bei „MaasMedia“ erschienenen, von Mario Mentrup herausgegebenen Sammelband „Print Identitäten“ nachlesen kann, nimmt sie den Chef-Situationisten Guy Debord auf den Arm: Bei einer Kellerparty in Prag, schreibt sie, sah sie Debord zufällig in einem Super-8-Film, wie er, „als viktorianisches Schulmädchen kostümiert, Marie Antoinette, die von einem Mann gespielt wurde, mit dem Mund befriedigte“. Basrawi gefällt die situationistische Idee, die Gesellschaft als Spektakel zu sehen und ihre Mechanismen zu unterlaufen, besser als die Texte der Situationisten. „Ich dachte, die wären cool, würden sich die Vermarktungsmechanismen zunutze machen und damit spielen. So wie die Band KLF, die sagt, wie man einen Nummer-eins-Hit schreibt.“ Basrawi hatte zu viel erwartet. Als sie „Die Gesellschaft des Spektakels“ von Debord las, war sie über den „verbitterten und humorlosen“ Autor erstaunt.

Claudia Basrawi, die in fremden Städten schon mal fremde Leute verfolgt, „um nicht ziellos herumzulatschen“, will demnächst einen Film drehen, gemeinsam mit Mario Mentrup. „Der ist Spezialist, der kennt die Verzweigungen.“ Menschen wie Bert Papenfuß, den „passionierten Ostberliner“, und ihre Gänge durch die Stadt sollen mit der Kamera porträtiert werden. „Vielleicht malen wir die Routen der Leute auf den Stadtplan.“ Vielleicht hängen die dann irgendwo aus, und man kann sie nachlaufen und sich anders fühlen.

Claudia Basrawis Texte sind nachzulesen in: „Print Identitäten“, hg. von Mario Mentrup, Maas Media, Berlin 2000, Nachdruck auf Anfrage unter: www.maasmedia.netStewart Home liest heute, 22 Uhr, im Kaffee Burger, am 5. Juli werden Basrawi und Gundula Schmitz dort aus ihren Psychogeografien lesen