Linien aus Löwenzahn, Linien aus Schnee

Die Transparenz der Gegenwart: In der Galerie Springer & Winckler hat Andy Goldsworthy eine Lehmwand gebaut, die sich jeden Tag etwas verändert

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Die glatte Oberfläche reißt. Der Lehm trocknet und ein Netz haarfeiner Risse durchzieht mäandernd die Haut der Wand, die Andy Goldsworthy in der Galerie Springer & Winckler eingezogen hat. Der Unterbau aus Holz und die verschiedene Stärke der Lehmpackungen lassen die Trocknungszeiten der Masse differieren. Die Unterschiede sind für die Spannungen verantwortlich, die in der glatten Fläche allmählich eine herausbrechende Kreisform erkennen lassen. So verweist die Zeichnung auf Prozesse, die ihr vorausgegangen sind. Gebäude, meint Andy Goldsworthy, stammen von der Erde ab.

Sie sind nur von ihrem Ursprung schon so weit entfernt, dass es kaum noch ein Bewusstsein von ihrer Verbindung mit der Natur gibt. Die Wand aus Lehm visualisiert ein Gedächtnis der Architektur und ein Wissen um ihre Endlichkeit. Die Möglichkeit des Verfalls ist vorweggenommen wie in fast allen Skulpturen Goldsworthys: Er hat Tore aus Eisschollen gebaut, die von der Sonne weggeleckt werden, und Kegel aus Sand der Flut preisgegeben. Er hat aus Steinen Kappen geschichtet, die irgendwann einmal von den Bäumen weggeschoben werden, die in ihrer Höhlung vor dem Wind und dem Hunger der Schafe geschützt aufwachsen. Kann sein, das passiert erst nach seiner Zeit. „Wenn ich in ein Gebäude komme, ist die Anwesenheit von Menschen, die dort gelebt oder gearbeitet haben, spürbar. Unter der Oberfläche sind andere Erinnerungen – nicht sichtbar, aber doch aufzufinden.“ Um diese Transparenz der Gegenwart geht es Goldsworthy in seiner Kunst.

Im Vorwort seines Buches „Zeit“ beschreibt er das auch so: „Gewöhnlich bin ich wie ein Tier, das wissen muss, wo unter dem Schnee Nahrung – der im Winter gegenwärtige Sommer – zu finden ist.“ In Deutschland sind die Landart-Projekte von Goldsworthy in der Kunstszene wenig bekannt. Dennoch hat er eine große Fangemeinde durch die Fotobände, mit denen er seine Arbeit vorstellt. „Zeit“ ist sein sechstes Buch im Verlag Zweitausendeins, Gesamtauflage über 120.000. In „Zeit“ kann man durch seine Liebesaffären mit seiner Heimat Schottland blättern und sechs Tagebücher über Erkundungen in Kanada, Frankreich, Neuschottland, Holland, New Mexico und New York lesen. Wetter- und Wegberichte ersetzen die übliche Ausstellungsbiografie.

Die Bilder bestechen durch das Leuchten der Farben und das Spiel des Lichts. Linien aus gelbem Löwenzahn markieren die Kante zwischen Hauswänden und Straße in einer französischen Altstadt, Linien aus Schnee umreißen ein Feld in den schottischen Hügeln. Mit Farben von Laub und geriebenen Steinen erhalten felsige Flusslandschaften Konturen, die ihre Bewegungen und ihr Gewordensein akzentuieren. In England haben die Maul- und Klauenseuche und BSE das Verhältnis zum Land tief erschüttert.

Auch in Dumfriesshire in Schottland waren die Wege gesperrt und die Landschaft unzugänglich. „Es war, als käme man in eine Kriegszone. Polizei, Waffen, Armee ... und über allem lag der Geruch der verbrannten Tiere“, erinnert sich Goldsworthy. Er hat sich damals an den Zaun seines Gründstücks, das er nicht mehr verlassen konnte, gestellt und einen „Frostschatten“ auf das Feld auf der anderen Seite geworfen. Der „Frostschatten“, der sich zuerst dunkel auf der gefrorenen Wiese abzeichnet, wurde später zu einer hellen Figur im getauten Grün. Direkt thematisieren aber will Goldsworthy die aktuelle Krise der Landwirtschaft und das dadurch erschütterte Vertrauen in die Natur nicht.

„In der Natur ist der Verlust die ganze Zeit gegenwärtig. Die Maul- und Klauenseuche ist nur ein extremes Beispiel. Aber immer, wenn man hinausgeht, sieht man tote Tiere, gestürzte Bäume, Erdrutsche – das findet man nie in der Stadt. Da wird gleich alles weggewischt. Für mich stecken in der Stadt wesentlich mehr Romantizismus und Phantasmen als in der Natur: Die ist wirklich, unromantisch und schroff.“

Der Irrtum liegt für ihn in einer Perspektive, die Landschaft als Erholungs- und Freizeitgebiet konsumieren will und nicht ihre Geschichte sieht. Für die Pendler, die morgens in London zur Arbeit kommen und abends die City wieder verlassen, „wie Ebbe und Flut“, setzte Goldsworthy in der Mittsommernacht vor einem Jahr zwei Meter große, tiefgefrorene Schneebälle aus. Das war wie die Begegnung zweier Zeiten, der tägliche Rhythmus vom Zufluss und Abfluss im financial district unterbrochen von einer Verzögerung und Verlangsamung. „Die schönsten Dinge, die ich mache, verschwinden. Verlust ist etwas, was wir alle begreifen müssen. Abschied und Verlust werden aber nur verstehbar, wenn man auch die Liebe und Anziehung gespürt hat“, erläutert er die Funktion der Schönheit in seiner Arbeit. Seine Bilder befriedigen einen Hunger nach Schönheit und Harmonie im Anblick der Natur, den die Kunst heute nur noch selten stillt. Doch einer Interpretation als Magier, der mit den Naturkräften im Bunde ist, begegnet Goldsworthy nüchtern: „Immer lese ich: Andy repräsentiert die Natur. Er geht jeden Tag hinaus. Aber ich bin nicht von England hierher geschwommen, ich habe das Flugzeug genommen. Natürlich benutze ich die moderne Technologie und bin damit glücklich. Ich arbeite auch in Gebäuden, schließlich lebe ich auch darin.“

Andy Goldsworthy bei Springer & Winckler, Fasanenstr. 13, Charlottenburg, bis 4. August. „Zeit“, erschienen bei Zweitausendeins, 69 DM.