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Aufbrechen, nicht ankommen!

Jean Seberg, unglaublich sexy, Jean-Paul Belmondo unglaublich rauchend. Ein Zitatenspiel über einen kleinen Gangster, der von seiner großen Liebe verraten wird, mit einer Bettszene, in der das Laken Leinwand spielt. Zur Wiederaufführung von Jean-Luc Godards Regiedebüt „Außer Atem“

von HANNS ZISCHLER

„J’aime la France!“, schreit der Filou Michel Poiccard, als er mit seiner gestohlenen belle américaine – einem Amischlitten, würden wir sagen – über die Landstraße brettert. Wenn Jean-Paul Belmondo im Auto eine Waffe entdeckt und damit um sich schießt, schneidet Godard auf eine Allee, in deren Bäumen sich die Strahlen der Sonne brechen. Von dieser Art sind seine Bilder: Symptomatisch und, wie bei Godard nicht anders möglich, leicht überdeterminiert. Der Filou in „Außer Atem“ ist Jean-Paul Belmondo, ein Anmacher, der immer eine Spur zu kess redet und groß tut – was gewiß auch damit zusammenhängt, dass der Film, wie Godard erzählt, damals, 1959, stumm gedreht und nachsynchronisiert wurde: „Ich habe die Texte souffliert.“

Dieser damals gerade sechsundzwanzigjährige Belmondo ist ein Mischwesen, schwankend zwischen einem filmhungrigen Zuschauer und einem gerade aufgehenden Star. Wenn er vor das überlebensgroße (leinwandfüllende) Plakat von Humphrey Bogart tritt und sich mit dem Daumen über die Unterlippe fährt, sehen wir nicht nur das narzisstische Spiel mit einem unerreichbaren Spiegelbild, sondern auch die wehmütige Abwendung vom amerikanischen Kino.

Die belle américaine kann ein Auto oder eine Frau sein, am besten beides und beides trivial und untrennbar miteinander verschmolzen. Jean Seberg tritt auf den Plan – outrageously sexy! wollte das englische Plakat zu dem Film wissen – wie eine weiße Pocahontas, die dem Charme des Großmauls immer wieder erliegt. Gelöster und ergreifender, verletzlicher und unbeschwerter war sie nie. Während der dreiminütigen, ungeschnittenen Sequenz, die die beiden beim Flanieren auf den Champs-Élysées zeigt, saß der Kameramann Raoul Coutard in einem Schubkarren.

Eine „Bettszene“, wie man damals in Deutschland sagte, wird als Off im On inszeniert: das große, weiße Leintuch verhüllt die Liebenden, während wir das Laken zur Leinwand unserer Fantasien machen können.

„A bout de souffle“ – „Außer Atem“ ist über weite Strecken unverblümt narrativ, so als hätte Godard mit diesem Debüt die Illusion des Erzählkinos noch einmal auskosten wollen, um sich dann für immer von ihr zu verabschieden. Doch auch hier schon winkt er die Zitate mit leichter Hand herbei: Fahndungsbilder und Zeitungstitel (die New York Herald Tribune, mit der Seberg als Herold und als prekäres „Gegengift“ das Revolverblatt France Soir), Bücher (Faulkner), Kinoplakate: Die Leinwand ist besetzt mit vorgefundenen Zeichen, die den Found Poems von Barn Porter verblüffend ähnlich sind. Jean-Pierre Melville tritt auf, der große Meister des Film noir, umlagert von Journalisten, in der Rolle eines Schriftstellers sagt er Sätze für die Ewigkeit („Unsterblich werden und dann sterben“) und raunt Paradoxien – ganz so, wie später Godard das selbst praktizieren wird: das Interview als Orakel.

Der Nebel, aus dem diese Rätsel aufsteigen, ist hier aus Zigarettenrauch gebildet – eine wahre Orgie von Bildern in kinematografischer Sfumato-Technik zieht an uns vorüber. Belmondos Kettenrauchen ist nicht nur den B-Pictures abgeluchst, sondern fungiert fast wie eine bildhafte Interpunktion – ein weißer Gedankenstrich (auch der Gedankenlosigkeit) zwischen den betont derben, zotenhaften Sätzen seines Argot-Französisch.

In einer merkwürdigen Episode, die wegen ihrer stummfilmhaften Düsterkeit eben weit mehr als nur ein „komischer Einfall“ ist, denunziert ein Passant (Jean-Luc Godard, mäßig getarnt mit Pfeife und dunkler Brille) den wegen eines Polizistenmordes gesuchten Poiccard (der sich ja gewissermaßen durch seinen Namen plakativ als wandelnder Wandschrank – placard – hervortut).

In Gestalt des wachsamen, misstrauischen Bürgers tritt Godard vor zwei Polizisten und deutet auf den Gesuchten. Zwar kann Poiccard diesmal noch entkommen, doch hat der Autor eine unmissverständliche Trennungslinie zwischen sich und seiner Figur gezogen.

Die Wiederaufführung dieses 1959 in gerade mal drei Wochen „heruntergedrehten“ Films, der zur Initialzündung für die Nouvelle Vague wurde und bis heute Godards einziger kommerziell erfolgreicher Film blieb, ist Teil einer Projekts des Berliner Filmverleihs Neue Visionen. „Außer Atem“ ist der erste einer Reihe früher Godard-Filme, die mit nagelneuen Kopien bundesweit ins Kino kommen: Im September „Die Geschichte der Nana S.“, im November „Alphaville“ und im kommenden Jahr drei weitere. Wenn wir dank dieser mutigen Verleiherinitiative Godards Debütfilm heute endlich wieder auf der Leinwand sehen (und nur auf der Leinwand, nur in der großen Projektion kann man überhaupt Filme sehen, der Rest ist Philatelie), können wir den mächtigen Wellenschlag der Nouvelle Vague ungetrübt noch einmal erleben. Er trägt, noch immer, und mit ihm geht ein Versprechen einher, das jeden betrifft, der sich nicht mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen abgeben will. Aufbrechen!, nicht ankommen, war die Devise dieser Filme. Das bleibt bis heute beherzigenswert.

„Außer Atem“ (Wiederaufführung). Regie: Jean-Luc Godard. Mit: Jean-Paul Belmondo, Jean Seberg, Van Doude, Liliane David, Claude Mansard u. a. Frankreich 1959, 88 Min.

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