„Selbstständiges Denken ist unser Lernziel“

Trotz unveränderten Prüfungssystems sieht ein reformierter Lehrplan künftig die Gruppenarbeit in Grundschulen vor

PEKING taz ■ Auf den ersten Blick ist alles wie immer: Zweitausend Schüler der Guangming-Grundschule in Peking stehen am Montagmorgen auf dem Schulhof zur so genannten Fahnenschützenkönig-Ehrung stramm. Das alltägliche Bild von den vielen Kindern in Reih und Glied mit dem Klassenlehrer an ihrer Spitze ist im Westen wohl bekannt: „Der Nagel, der herausragt, wird eingeschlagen“, heißt es dort – in zynischer Anspielung auf den alten Kollektivgeist konfuzianischer Erziehung in China.

Doch in der Guangming-Schule in Peking haben die Lehrer den Hammer weggelegt. „Lassen wir jedes Kind sagen: ‚Ich kann es‘“, lautet ihr Slogan. „Selbstbewusstsein und selbstständiges Denken sind unsere wichtigsten Lernziele“, betont Guangming-Direktor Wen Daiyan. Sein Rat an die Lehrer: „Mehr auf das einzelne Kind und weniger auf das Kollektiv achten!“

So, wie der Direktor empfiehlt, wird es auch gemacht. Täglich haben die Schüler nun Gruppenunterricht, in dem sie eigenständig Lösungen erarbeiten müssen. „Seither stellen die Schüler viel bessere Fragen“, beobachtet eine junge Lehrerin, die von den Schwierigkeiten älterer Kollegen mit den neuen Methoden berichtet. „Die halten Gruppenarbeit für Zeitvergeudung. Sie denken immer noch, mit einem Satz lasse sich alles erklären.“ Mit 20 anderen Schulen ist die Guangming-Schule seit drei Jahren Vorreiter einer Lehrplanreform für Grund- und Mittelschulen, die in Peking ab September an allen Schulen in Kraft treten soll.

Schon hagelt es Kritik, da Eltern glauben, mit ihren Kindern werde experimentiert. Doch Wen Zhe, Vizepräsident der Pekinger Erziehungskommission, verteidigt den von ihm entworfenen Lehrplan. „Es reicht nicht, den Kinder wie bisher reines Prüfungswissen einzuimpfen. Sie brauchen mehr Zeit, um selbst etwas zu tun. Sonst funktioniert der Unterricht nicht mehr. Auch chinesische Kinder sind nicht mehr so brav wie früher.“

Größtes Hindernis der Reform ist das unveränderte Prüfungssystem für die Zulassung zu Oberstufe und Universität. Es zwingt die Schüler, Schriftzeichen, Fakten und Vokabeln zu pauken. Eigene Meinungen sind bei den großen Prüfungen nicht gefragt. Wen Zhe will in Zukunft auch das ändern, doch den Anfang macht er bei der Grundschule: „Den Prüfungsstress haben wir bis zur sechsten Klasse weitgehend abgebaut.“

Als Schützenkönig der Guangming-Schule in Peking wird an diesem Morgen ein Zweitklässler geehrt, der immer allein mit dem öffentlichen Bus zur Schule kommt. „Die Selbstständigkeit des Einzelnen ist der Grundstein für eine moderne Gesellschaft“, erklärt der Vater des Jungen vor den versammelten Schülern. GEORG BLUME