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: HELMUT HÖGE über Kopf- und Handarbeit

Die letzten Überlebenden

Neulich hörte ich, wie die Penner auf der Bank – vis-à-vis den Schönhauser Allee Arcaden in Prenzlauer Berg – die vier Vietnamesen, die links von ihnen auf dem Blumenbeetmäuerchen hocken, anpöbelten: „Hey, sag mal – habt ihr nichts zu tun?! Den ganzen Tag hängen diese Fidschis hier rum. Is ja zum Kotzen!“ Tatsächlich sind die Vietnamesen dort die letzten aufrechten Zigarettenverkäufer – und hängen also gar nicht rum.

Im Gegensatz zu den Pennern, die sich auf der Bank daneben zum Büchsenbiertrinken treffen. Allerdings behauptet einer von ihnen, mit Bart, diese Bank, das sei quasi sein Geschäftssitz, von dort aus bahne er seine An- und Verkaufsverhandlungen an – wobei es um Hunde gehe. Er sei sozusagen Hundehändler – seitdem man ihn bei der Brauerei in Weißensee entlassen habe. Aber das sei schon lange her.

Auch die Frau mit den zugeschwollenen Augen neben ihm sitzt nicht zu ihrem Vergnügen da. Früher war sie in der Hotelbranche tätig: Leipzig, Dresden, Suhl, Rostock, die ganzen Interhotels, auch in Berlin. Die kenn ich alle: Ach, hör doch auf, ich hab genug erlebt, mir macht man nichts mehr vor. Das schwört sie jedem – der darauf besteht. Im Übrigen passe sie hier ein bisschen auf die Jungs auf: Die brauchen mich, echt!

Was den mit dem Bart, Jürgen, nicht davon abhält, sie anzublaffen: Alte, was willst du eigentlich hier? Hau ab, du vergraulst mir die ganzen Kunden! Ach, Jürgen, reg dich ab. Wer soll dich denn nachher nach Hause bringen, wenn nicht ich?! Jürgen tippt sich an den Kopf: Du? Du hast doch selbst Schwierigkeiten, dein Haus zu finden. Vorgestern Nacht biste bei Schorse auf der Bude gelandet. Alle lachen.

Inge, so heißt die Hotelfrau, gibt sich nicht gleich geschlagen: Umgekehrt wird ’n Schuh draus – Schorsch wäre sonst wo gelandet, wenn ich ihn nicht geleitet hätte, der war hackevoll. Wieder lacht alles – über Inge: den Engel der Schönhauser.

Auch Kackarsch, der auf der anderen Seite neben ihr eingeschlafen war und durch das Lachen aufgewacht ist, hält sich den Bauch und hustet und schleimt. Die Fröhlichkeit scheint also auch ihn ergriffen zu haben. An sich ist er eher ernst und nachdenklich, so dass die anderen es meistens nicht mitkriegen, wenn er einschläft. Er hat Zucker, ihm mussten schon ein paar Zehen amputiert werden. Seitdem trinkt er nur noch Becksbier: Das bekommt mir am besten, hat mein Arzt auch gesagt. Die anderen halten das für Spinnerei. Aber Kackarsch, der so heißt, weil er schon ein paar Mal hinter die Bank gekackt hat, neigt sowieso zu Übertreibungen. So behauptet er zum Beispiel, dass er sich nur deswegen auf der Schönhauser aufhalte, weil er es nicht mehr nötig habe, sich seinen Arsch aufzureißen. Früher, ja, als er noch Fahrer beim EAW war, da hat er nichts anbrennen lassen und so manches Schnäppchen nebenbei gemacht. Sogar die Kombinatsleitung war manchmal baff. Die waren auf mich angewiesen, glaub’s mir, aber dann – im entscheidenden Moment – haben sie mich hängen lassen, diese Schundnickel. Kackarsch kam in den Knast. Aber ich muss sagen: Das war eine gute Zeit dort. Der Schließer war in Ordnung, die Zelle auch. Wir haben uns aus eingeweichtem Brot Wein gemacht. Und dann ging’s aber ab. Wenn ich ehrlich bin: Nie wieder habe ich’s so gut gehabt.

Na ja, ist vorbei, die ganze Gesellschaft ist ja nun untergegangen. Wir sind hier die letzten Überlebenden. Darauf müssen wir einen trinken. Da kommt Schorse – der Penner! Der hat bestimmt Geld. Vielleicht kann er ’ne Runde spendieren. Der hat den ganzen Vormittag an der S-Bahn geschnorrt. Der kann den Hals nicht voll kriegen. Immer muss er noch was nebenbei verdienen. Der reinste Karrierist!