: Der Kafka im Herzen des Flammenwerfers
Kritische Merksätze zum 20. Jahrhundert aus dem Geiste Uschi Nerkes Beat-Club: Ray Bradburys Dramatisierung seines Sciencefiction-Klassikers „Fahrenheit 451“ lässt vermuten, dass der Mann nicht mehr ganz frisch ist. Hans-Ulrich Becker illustriert das mit seiner Stuttgarter Inszenierung
von JÜRGEN BERGER
Gehören Sie zu denen, die noch darauf schwören, dass viele Wege nach Rom führen? Besitzen Sie also neben diversen Internet-Suchmaschinen auch noch so etwas wie eine kleine Bibliothek? Wenn ja, dann sollten Sie jetzt aufpassen. Falls Sie irgendwann wieder mehr Platz brauchen und die kleine Bibliothek oder zumindest den kleinen Brockhaus schnell entsorgen wollen, müsste die Flamme schon 124,8 Grad Celsius heiß sein. So was tut man doch nicht, werden Sie jetzt sagen. Vor allem nicht als Deutscher. Sie haben ja Recht! Da praktisches Wissen aber nicht schaden kann, hier noch mal zum Mitschreiben: Bei exakt 124,8 Grad Celsius entzündet sich Papier. 124,8 Grad Celsius entsprechen 451 Grad Fahrenheit, womit wir beim Thema und Ray Douglas Bradburys Sciencefiction-Klassiker wären.
Geschrieben hat er „Fahrenheit 451“ im Jahr 1953. Da lebte Bradbury bereits 20 Jahre in Los Angeles, was insofern gut war, als man dort schneller berühmt werden konnte als in Waukegan, Illinois, wo er seine Jugend verbrachte. In Los Angeles ließ es sich in den muffigen Fünfzigerjahren, als der McCarthyismus seine skurrilsten Blüten trieb, wohl auch besser leben als in der Provinz. Bradbury wurde mit seiner Vision einer totalitären, illiteraten Welt von Buchallergikern schlagartig bekannt. Schon 1966 verfilmte François Truffaut den Roman vom melancholischen Feuerwehrmann, der „illegale“ Privatbibliotheken niederbrennt, allmählich selbst zu lesen beginnt (die Bibel, was sonst?), ins Zweifeln gerät und schließlich seinen eigenen Feuerwehr-Captain mit dem Flammenwerfer niedermacht.
Truffaut war stark an Bradburys Kritik der Massenmedien interessiert. Die, so die zentrale Botschaft, können zu Säulen totalitärer Staaten werden. Dagegen steht der Individualismus des einsamen Buchlesers, der, alleine mit der Schrift, unkalkulierbar ist und das Zeug zum wahren Lese-Demokraten hat. Truffaut legte keinen Wert auf eine Sciencefiction-Atmosphäre, sondern inszenierte die Sterilität von Oberflächenmenschen. Das Drehbuch schrieb er selbst. Bradbury machte sich dann auch an eine Dramatisierung seines Romans und aktualisierte sie zuletzt vor drei Jahren. Das Ergebnis sind kritische Merksätze zum 20. Jahrhundert an sich.
Bradburys Dramatisierung allerdings steht am Anfang der Probleme, die man am Wochenende auf der Stuttgarter Schauspielbühne bestaunen konnte. Sie ist, zumindets in der Übersetzung, passagenweise von miserabler sprachlicher Qualität. Bradbury ist im Alter von nunmehr 81 Jahren, nach unzähligen Romanen und Drehbüchern unter anderem zu „Moby Dick“ und Hitchcock-Filmen, wohl nicht mehr ganz so frisch, um eigenen Texten neuen Schliff zu geben. Man fragt sich aber auch, warum Hans-Ulrich Becker allen gestelzten Dialogen Bradburys inszenatorisch beizukommen sucht und die Vorlage nicht lediglich als Ausgangspunkt für eine eigene szenische Exkursion verwendet.
Konnte Truffaut dem Bradbury-Stoff noch eine zeitlose Bedeutung geben, ist in Stuttgart der Versuch zu sehen, „Fahrenheit 451“ aus dem Geiste der Sixties wieder zu beleben. Bühnenbildner Alexander Müller-Elmau hat einen mehrgeschossigen Feuerwehr-Irrgarten gebaut, in dem Bücher verbrennende Feuerwehrmänner an Emergency-Stangen die Ebenen wechseln. Das ermöglicht schnelle szenische Wechsel und ist von einer Ästhetik, als sei Uschi Nerkes Beat-Club in einer futurologischen Variante wieder auferstanden. Da wandeln Schablonenmenschen durch eine Schablonenwelt, während Hans-Ulrich Becker klar zu machen versucht, dass wesenlose Menschen vor allem langweilig sind.
Dummerweise ist auch seine Inszenierung in der ersten Hälfte nur langweilig und Bernd Gnann ein Guy Montag der ausdruckslosen Art. Das ist etwa so aufregend, als sähe man Angela Merkel dabei zu, wie sie eine Schildkröte zu imitieren sucht. Claudia Jahn spielt die Montag-Gattin als ein vor Riesenbildschirmen verblödetes Couch-Potato. Katja Uffelmann dagegen agiert als Sweet Little Sixteen-Clarisse am Rande des Verschwindens. Dabei gehört das junge Mädche zur Ökoliga bekennender Lese-Junkies, macht Montag mit der Bücherwelt bekannt und könnte im Reigen der Schablonenmenschen ein substanzvolles Wesen sein. Merkwürdigerweise huscht sie in Stuttgart aber immer nur kurz über die Bühne.
Die Inszenierung gewinnt an Fahrt, wenn Guy Montag allmählich am Sinn einer Welt ohne Bücher zweifelt und es zu Auseinandersetzungen mit Gattin Mildred kommt. Es mag sein, dass Hans-Ulrich Becker „Fahrenheit 451“ tatsächlich als Parabel auf unsere heutige Medienwelt inszenieren wollte. Ein packender Theaterabend allerdings ist nicht daraus geworden, obwohl er sich allerhand Beiwerk einfallen ließ und aus des Captain Beattys Killerhund – er wird mit den Gencode-Karten aller Leseterroristen gefüttert und kann diese überall und jederzeit vernichten – eine Furcht erregend über alle Bühnenmonitore flimmernde genmanipulierte Heuschrecke gemacht hat.
Beatty ist Gott sei Dank schon tot, wenn Montag schließlich bei den Waldlesern landet. In Stuttgart sitzen die schmökernd und murmelnd unter Leselämpchen. Der Abend geht in einer langen, melancholischen Sequenz zu Ende. Unter anderem erklärt ein gereifter Studienrat einem Knaben, wie das so ist mit Kafkas „Prozess“. Guy Montag ist endlich im Nirwana der abendländischen Gesamtbibliothek angekommen. Seinen Flammenwerfer hat er zurückgelassen. Wir können also jegliche Spekulation darüber unterlassen, wie viel Grad Fahrenheit wohl im Herzen eines Flammenwerfers herrschen.
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