Afrika gibt sich die Kugel

von DOMINIC JOHNSON

Garissa stinkt. Im drückend heißen Ramadan liegt die Bevölkerung der Hauptstadt von Kenias North Eastern Province tagsüber regungslos vor ihren Häusern, während der trockene Wind Plastiktüten durch die staubigen Straßen bläst. Den Fastenden geht es gut: Sie rasten im Schatten. Kein Entrinnen vor der Sonne gibt es am Stadtrand, wo der Abfall sich in Haufen türmt. Hier lebt in Lagern aus Stroh und Müll die Pariah-Bevölkerung von Garissa: Somalische Flüchtlinge, die in der großen Stadt Zuflucht und Einkommen suchen.

„Hier ist es besser. In der Stadt herrscht Frieden“, erklärt eine Flüchtlingsfrau, die mit ihren vier Kindern und einer Ziege in einer Rundhütte aus Lumpen und Speiseölkanistern haust. Wo ihr Mann ist, weiß sie nicht. Seit drei Tagen ist sie in Garissa – geflohen vor Kämpfen 300 Kilometer entfernt. Kriege zwischen somalischen Hirtenclans sind endemisch im unruhigen Nordosten Kenias. „Hier herrscht das Recht des Stärkeren“, klagt Provinzgouverneur Maurice Makhanu. „Unsere Provinz grenzt an Äthiopien und Somalia, und wir leiden unter dem Überschwappen von deren Chaos.“

Nach Lesart der kenianischen Regierung wird die Unsicherheit in Kenia von außen ins Land hineingetragen – in Form von geschmuggelten Gewehren, mit denen dann Verbrecher in Kenia Überfälle begehen und traditionelle Landkonflikte blutig ausgetragen werden können. „Die Gegend ist voller illegaler Waffen“, sagt der Polizeichef von Garissa. Bemühungen sie einzusammeln seien wegen des unerschöpflichen Nachschubs zum Scheitern verurteilt. Wie zum Beweis zeigt die Polizei ihr Arsenal beschlagnahmter oder freiwillig von der Bevölkerung eingereichter Waffen vor: 30 Kalaschnikows – das ist die Ausbeute seit Januar 1999. „Wer eine alte Waffe abgibt, hat meistens schon eine bessere gekauft“, seufzt der Provinzgouverneur.

Das Horn von Afrika ist mit Kleinwaffen überschwemmt wie kaum eine andere Region der Welt. „Die Ausbreitung von Kleinwaffen bedroht die Existenz unserer Völker“, sagt Daniel Yifru, politischer Direktor der ostafrikanischen Regionalorganisation IGAD. „Konflikte, die einst lokal blieben, verwandeln sich in Konflikte hoher Intensität.“ Sam Ibok, politischer Direktor der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), sagt: „Im ganzen Kontinent wird das Verbrechertum stärker, weil es immer mehr Waffen gibt. Viehdiebstahl, Wilderei, Plünderei und Diebstahl nehmen überall zu.“

Dies ist vor allem eine Spätfolge des Ost-West-Konflikts, als die USA und die Sowjetunion ihre jeweiligen afrikanischen Verbündeten massiv aufrüsteten. Das Horn von Afrika war einer der Brennpunkte der Rivalität zwischen den Supermächten. Da hier die Loyalitäten mehrfach wechselten, waren die Lieferungen besonders reichlich. Als Äthiopien 1974 bis 91 sozialistisch war und von Kuba und der Sowjetunion unterstützt wurde, ließ sich Somalias damaliger Diktator, Siad Barre, vom Westen aufrüsten; nach Barres Sturz 1991 und dem Zerfall Somalias in Clanterritorien wandte sich der Westen Äthiopien zu. Seitdem interessieren sich für die Reste Somalias vor allem Islamisten, die im US-Weltbild den Platz der Sowjets als Feind eingenommen haben.

Jeder Seitenwechsel bringt neue Rüstungskäufe mit sich. Heute beliefert Libyen die neue somalische Regierung in der Hauptstadt Mogadischu, die mit Mühe und Not den Süden des Landes beherrscht, während Äthiopien aus seinen alten Beständen die Gegner dieser Regierung aufrüstet. Insbesondere der Zerfall Somalias vor zehn Jahren hinterließ ein gigantisches modernes Waffenarsenal, aus dem sich seitdem ganz Ostafrika versorgt. Nach UN-Recherchen sind Waffen aus Somalia bis ins Kriegsgebiet der afrikanischen Großen Seen gelangt. Erst 1998 entdeckte Kenias Polizei, wie sie aus dem somalischen Grenzgebiet in die Hauptstadt Nairobi kamen: auf Viehtransportern – unter dem Sandboden, auf dem die Tiere stehen. Äthiopiens Waffenbestände wiederum reicherten in den 90ern den Bürgerkrieg in Sudan an.

„Die Gewehre sind nicht neu, sie werden aus alten Kriegen wiederverwertet“, sagt der kenianische Armeeleutnant Peter Marwa. „Die Leute, die sie schmuggeln, sind dieselben, die an diesen Kriegen teilnahmen.“ Konjit Senegiorgis vom äthiopischen Außenministerium präzisiert: „Fast alle dieser Waffen wurden irgendwann auf Bestellung des Militärs zur nationalen Sicherheit hergestellt.“ Der kenianische Diplomat Bethuel Kiplagat, Leiter des „Afrika-Friedensforums“ in Nairobi, spitzt das zu: „90 Prozent der Waffen, die illegal in der Region zirkulieren, stammen ursprünglich von Regierungen.“

Deutsche G-3-Sturmgewehre sind in Kenia heute besonders begehrt. Sie wurden von der Bundesrepublik 1977 nach Somalia geliefert als Dank für Siad Barres Hilfe bei der Erstürmung des von der RAF entführten Flugzeuges „Landshut“. „Die G-3 ist lauter und erschreckt die Leute besser“, sagt Ebla Haji Aden von der „Nomaden Entwicklungsinitiative“ in Garissa. Außerdem ist sie billiger als eine AK-47. Umgeschlagen werden die Waffen in den somalischen Flüchtlingslagern Kenias: Die Opfer der Clankonflikte verdienen ihren Lebensunterhalt durch Handel mit denselben Waffen, vor dessen Wirkungen sie fliehen.

Kenia ist voller G-3-Gewehre

In Reaktion darauf hat die Polizei in Nordostkenia inzwischen auch G-3-Gewehre erhalten. Das war keine gute Idee. Denn nach Angaben aus kenianischen Polizeikreisen werden jetzt die alten Bestände an AK-47 Gewehren in Kenias anderes großes Binnenkonfliktgebiet geschmuggelt, das Rift Valley im Zentrum des Landes. Und Waffenhändler im Nordosten Kenias können sich jetzt endlich vor Ort mit G-3-Munition versorgen, die ansonsten langsam knapp geworden wäre. Die Entwicklungsaktivistin Haji Aden in Garissa erklärt, wie: „Wegen der Unsicherheit lassen Viehhändler ihre Konvois von bewaffneter Polizei begleiten. Jeder Polizist trägt 100 Schuss Munition. Wenn bei einem Konvoi fünf Polizisten mitfahren, kann eine Gruppe Banditen sich mit dem Überfall auf den Konvoi Munition für ein Jahr besorgen.“

Das Kleinwaffenproblem in Afrika ist also nicht nur eines der Rüstungsexporte von außen, sondern eines des Umgang mit existierenden Waffen auf dem Kontinent selbst. Kaum ein Gebrauchsgegenstand ist so robust und langlebig wie eine Kalaschnikow. Die durchschnittliche Funktionsdauer eines Gewehres in Afrika ist laut OAU 20 Jahre, aber es sind sogar noch Gewehre aus dem Zweiten Weltkrieg in Umlauf. Immer mehr Länder stellen überdies selbst Gewehre und Munition her. Die in der Verbreitung von Kleinwaffen begründete gesellschaftliche Gewalt ist also nicht mit einem Rüstungsexportstopp nach Afrika zu beenden.

Lokale Organisationen haben zusammen mit dem Bonner International Centre for Conversion (BICC) Forschungsprojekte gestartet, die in verschiedenen Teilen des Horns von Afrika zum Schluss gekommen sind: Wer in Unsicherheit lebt und keine politischen Rechte hat, verschafft sich eben mit dem Gewehr Gehör. Selbst die somalischen Flüchtlinge in Garissa, die vor Clankriegen flohen, können Gewehre zum Selbstschutz gut gebrauchen – denn alle anderen haben sie schon. „Nachts kommen die Banditen“, regt sich der Polio-gelähmte Abdi Jamah in seinem aus Fahrradteilen gebastelten Behelfsrollstuhl auf. „Aber die Polizei patrouillert nie hier. Wir können uns nicht verteidigen. Die Banditen sind bewaffnet. Wenn man ihnen nichts gibt, erschießen sie einen. Wir bitten die Regierung, uns Sicherheit zu geben. Dies ist ein Grund, warum Leute zur Waffe greifen.“

Jeder braucht Gewehre

Für die meisten Menschen am Horn von Afrika ist Waffenbesitz kein Problem, sondern eine Selbstverständlichkeit. Haji Aden von der „Nomaden Entwicklungsinitiative“ sagt: „Die Somalis leben von Viehzucht; sie brauchen Gewehre zur Verteidigung ihres Eigentums, da der Staat sie nicht beschützt. Wer Gewehre hat, kontrolliert den Großteil der Ressourcen. Die meisten Jugendlichen sind arbeitslos und kaufen sich Gewehre als Einkommensquelle.“

Staatliche Versuche, Privatleuten den Waffenbesitz zu verbieten oder illegale Waffen zu beschlagnahmen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn eine Gesellschaft das staatliche Gewaltmonopol als Bedrohung ihrer Existenzgrundlage ansieht. „Wenn man den Leuten mehr Sicherheit bietet, könnte dies den Markt für Kleinwaffen austrocknen helfen“, erkennt Garissas Bürgermeister, Mohammed Duale. „Unsicherheit führt zu Armut. Das hält den Kreislauf der Gewalt am Leben.“