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Gerechtigkeit? Dafür bin ich auch!

Wie viel Ungleichheit erträgt unsere Gesellschaft, wie viel Gleichheit muss sie schaffen? Diese zentralen Fragen stellt sich wieder einmal Anthony Giddens, der Trendsetter des sozialdemokratischen dritten Weges. Seine Antworten sind so richtig wie banal

von ROBERT MISIK

Gleichheit ist eine abstrakte Idee, die wohl die meisten Menschen nicht kümmert. Sie sind tagein, tagaus vollauf damit beschäftigt, ihre wechselseitigen Distinktionsbedürfnisse zu befriedigen, und reagieren ansonsten auf jede Form der „Gleichmacherei“ sehr sensibel. Die Gleichheitsidee? Ein toter Hund aus linken Traditionsbeständen. Sie taugt allenfalls noch für Nostalgiker, die sie gern zwischen Blauhemd und Demokratenhut im Museum linker Seltsamkeiten ablagern.

Doch: Man täusche sich da nicht. Manches deutet darauf hin, dass die Frage, wie viel Ungleichheit für unsere Gesellschaften ertragbar ist und wie viel Gleichheit sie realisieren müssen, um die soziale Kohäsion nicht vollends auf Spiel zu setzen, zunehmend aus den kleinen Debattenzirkeln dringt. Erst vor ein paar Wochen hob der britische Economist, der für soziale Sentimentalitäten nicht sonderlich bekannt ist, die Frage „Does inequality matter?“ sogar auf die Titelseite. In der Programmdebatte wiederum, die von der SPD seit mehr als einem Jahr geführt wird, steht die Gleichheitsfrage im Zentrum. Es dürfte auf einen, selbstquälerischen zwar, Abschied vom Gleichheitsideal hinauslaufen: „Verordnete Gleichheit – das lehrt die Geschichte – ist der Tod von Gerechtigkeit und Freiheit. Moderne soziale Marktwirtschaften hingegen können die Chancen auf Gleichheit erhöhen, ohne jedoch Gleichheit im Ergebnis zu sichern oder zu versprechen. Diese Form von begrenzter Ungleichheit im Ergebnis kann sehr wohl auch ein Katalysator sein für individuelle als auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten“, gab der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement den Ton vor.

Andererseits herrscht – um das Mindeste zu sagen – doch einige Unklarheit über das in den westlichen, vor allem europäischen Gesellschaften „tatsächlich vorhandene Gerechtigkeitsverständnis“ (Wolfgang Thierse). Dass die Zahl derer, die es auch als Aufgabe der Regierung sehen, den Abstand zwischen Arm und Reich zu reduzieren, in Großbritannien in den vergangenen zwanzig Jahren merklich gefallen ist, deutet auf eine wachsende Akzeptanz der Ungleichheiten hin. Andererseits ergeben alle Umfragen, dass selbst für die jungen, dynamischen Arbeitnehmer aus Schröders neuer Mitte Solidarität immer noch „ein hoher Wert“ ist, diese „soziale Kälte“ nur schwer ertragen. In Deutschland ist immerhin eine relative Mehrheit der Meinung, ergab eine Allensbach-Umfrage, „dass sich ein Land besser entwickelt, in dem nicht nur die Chancengleichheit gewahrt wird, sonders das auch nach Gleichheit im Ergebnis strebt“.

Letztes Indiz für die Brisanz der Gleichheitsfrage: Anthony Giddens, der Stichwortgeber aller sozialdemokratischen Modernisierungstheoretiker, Trendsetter unter den Mittelwegsgefährten, ließ jetzt ein Buch unter dem Titel „Die Frage der sozialen Ungleichheit“ erscheinen. Die Originalausgabe trägt den Titel „The Third Way And Its Critics“. Aber auch darin handelt das Schlüsselkapitel von der „Question of Inequality“. Giddens, ein Soziologe von Weltformat, Chef der London School of Economics, hat sich in den letzten Jahren zunehmend der Politikberatung verschrieben. Für dieses an und für sich lobenswerte Unterfangen hat der Blair-Vertraute freilich auch einen zunehmend höheren Preis zu bezahlen. Er vermischt Allgemeinplätze, reiht politische Programmversatzstücke aneinander, deren wesentliches gemeinsames Charakteristikum darin besteht, dass sie strikt „realistisch“ sind. Mit einem Wort: Bei der Lektüre von Giddens’ neuestem Büchlein könnte mancher den Gedanken entwickeln, dass es eine Art Naturgesetz ist, fad zu werden, sobald man sich der Sozialdemokratie annähert.

Dabei ist wenig von dem, was Giddens ausführt, falsch. Es ist meist freilich in so offensichtlicher – und weitgehend bekannter – Weise richtig, dass es als Medikament gegen Schlafstörungen zu empfehlen ist. „Die Fortsetzung des Dritten Weges ist keine Fortsetzung des Neoliberalismus, sondern eine Alternative zu ihm“ – Postulate dieser Art liebt der neue Giddens. Giddens wehrt sich gegen die Vorwürfe, der sozialdemokratische Neoreformismus sei keine Reform, sondern die Abwicklung sozial orientierter Politik, indem er das Primat der Marktökonomie akzeptiere und in seiner Politik gegen die traditionellen Instrumente wohlfahrtsstaatlicher Intervention die Sache der Konservativen betreibe.

Staat, Markt und Zivilgesellschaft müssen in einem Gleichgewicht zueinander stehen, gibt Giddens zurück. „Die reformierte Linke hat schon lange eingesehen, dass neben dem Staat den Märkten eine wichtige Funktion zukommt; doch war dieses Eingeständnis typischerweise mit einigem Widerwillen verbunden.“ Giddens will den Widerwillen abbauen. Außerdem erzeugen alle Wohlfahrtsstaaten „Abhängigkeit, unehrliches Verhalten, Bürokratisierung, einflussreiche Interessensgruppen und Betrugsfälle“. Deswegen muss man sie zurückbauen. Vor allem die großen Transferbürokratien, die die Menschen füttern, anstelle ihnen auf die Beine zu helfen, haben sich die „Third-Wayer“ aufs Korn genommen. Das Nervtötende daran ist, dass sie dies immer mit großem Entdeckergestus tun, als gäbe es nicht „aktive Arbeitmarktpolitik“ seit längerer Zeit, besonders in Schweden, aber auch in Deutschland, neuerdings in Frankreich und eben in Großbritannien. Weil in der neuen Wissensgesellschaft die Akkumulation von Kompetenzen über Inklusion und Exklusion entscheidet, bleibt im Weltbild der „Third-Wayer“ von der Gleichheit nur die „Chancengleichheit“ über. Allen sollen Chancen gegeben werden. Weil die Kinder der Reichen mehr Chancen haben als die Kinder der Armen, brauche es Umverteilung der Chancen. „Chancen für alle“, heißt es jetzt. Früher hieß es „Wohlstand für alle“.

Giddens fügt dann immer wieder hinzu: Dennoch werde es Umverteilung brauchen. Etwa, damit die Chancengleichheit von heute nicht die Chancenungleichheit von morgen bedeute, weil die, die heute ihre Chancen besser nutzen, ihren Kindern dann Startvorteile verschafften. Man „kann“ und „muss“ auch heute noch von den Reichen nehmen und den Armen geben, fügt Giddens mit heroischem Gestus hinzu. Aber in welchem Ausmaß? In einem, das die Ungleichheiten, die seit Ende der 70er-Jahre explodierten, reduziert? Dies verlangte nämlich radikale Eingriffe. Die Interventionen in dynamische, ausdifferenzierte Gesellschaften seien kompliziert, so Giddens, einfache Formeln gäbe es dafür nicht mehr (sie haben auch früher nicht funktioniert). Wer wüsste das nicht. Vor allem gelte es, die „Exklusion“, die Dauerarmut zu überwinden. Wie wahr.

Nebenbei will Giddens auch noch die „Demokratie demokratisieren“ und die Globalisierung ernst nehmen.

Die wirklich wichtigen Fragen streift Giddens nur, wenn er überhaupt zu ihnen kommt: etwa, ob es nicht eher darum geht, dass Menschen ein gutes Leben führen, als um die Frage, wie dieses Leben relativ zum Leben anderer steht. Oder ob Ungleichheiten nicht eher zu ertragen sind, solange es Orte gibt, an denen sich alle Bürger als Gleiche begegnen. Das jedoch setzte voraus, dass gesellschaftliche Räume existieren, die dem Markt entzogen bleiben: ein funktionstüchtiges, billiges öffentliches Transportsystem oder ein allgemeines Gesundheitssystem, das auf der Höhe der medizinischen Möglichkeiten ist.

Anthony Giddens: „Die Frage der sozialen Ungleichheit“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001, 197 S., 32 DM (16,36 €)

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