: Ungezwungenheit im Matrosenanzug
Das Museum „Kindheit und Jugend“ gibt mit der Ausstellung „Das pädagogische Kleid“ einen Einblick in die Geschichte der Jugendkleidung. Schuluniformen waren in Deutschland zwar nie vorgeschrieben, gehörten aber lange zum Kodex
Schuluniformen sind keine Erfindung unserer Zeit. Die Einheitskleidung für Jugendliche spielt in der europäischen Kultur- und Sozialgeschichte seit etwa 200 Jahren eine Rolle. Sie war in Deutschland zwar nie Vorschrift, galt aber lange Zeit als ungeschriebenes Gesetz. Im Laufe der Jahrhunderte forderten Lehrer und Erzieher mit unterschiedlichen pädagogischen Intentionen immer wieder Schuluniformen, die die gesellschaftlichen Hierarchien verdeutlichen oder das Gemeinschaftsgefühl stärken sollten.
Einen Einblick in die Geschichte der Jugendbekleidung gibt derzeit die Ausstellung „Das Pädagogische Kleid“ im Berliner Museum „Kindheit und Jugend“. Neben historischen Informationen verfügt das Museum über eine kleine Schuluniform-Kollektion. Denn Textilwissenschaftsstudenten der Universität Oldenburg zeigen hier eine von ihnen entworfene Einheitskleidung.
Die Ausstellung ist klein, aber anregend. Die Mitarbeiter des Museums führen die ARD-Reportage „Kids und Knete“ vor und sprechen anschließend mit den Besuchern über das Verhältnis von Jugendlichen zu Mode und Uniform. Kinder dürfen außerdem einen nachgenähten Matrosenanzug anprobieren – um sich so einmal in die zweite Haut ihrer Altersgenossen vor über 200 Jahren hineinversetzen zu können.
Denn die Engländer kleideten ihren Nachwuchs bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie Matrosen. Damit grenzte sich das Bürgertum bewusst von der Aristokratie ab und zeigte offen seine Sympathien für die revolutionären Strömungen unterer Klassen. Im Rahmen einer von John Locke und Jean-Jacques Rousseau geprägten selbstbewussten Erziehung wurde der Matrosenanzug sehr geschätzt, da er den Kindern Bewegungsfreiheit und Ungezwungenheit ermöglichte.
Als sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die englischen Königskinder im Matrosenlook zeigten, war dessen Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. Die englische Prinzessin Victoria, die Mutter von Wilhelm II., brachte die Mode mit nach Deutschland. Seit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts gehörte der Matrosenanzug zur Standardbekleidung für deutsche Jungen.
Während der Gründerzeit wuchs auch die Beliebtheit von Kopfbedeckungen für Kinder. Als Zeichen der Würde setzte man zum Schulanfang den Jungen Kappen und den Mädchen kleine Hüte auf. Gymnasiasten trugen farbige Mützen, die sie auch im Straßenbild von den Volksschülern und Lehrlingen abhoben. Das wurde zur Vorschrift: Die Farben wechselten von Schule zu Schule, von Stadt zu Stadt. Bunte Streifen zeigten den Klassenfortschritt an und blamierten diejenigen öffentlich, die sitzen geblieben waren.
1874 begann der Aufbau der kaiserlichen Flotte, die Deutschen begeisterten sich für die Marine. Der Kieler Matrosenanzug wurde damit zum Symbol bürgerlichen Nationalstolzes. Es gab zwar kein Gesetz, das den Kindern diese Kleidung vorschrieb, der gesellschaftliche Kodex verlangte es jedoch letztlich.
Erst mit dem Kieler Matrosenaufstand 1918 verlor die maritime Kinderkleidung beim deutschen Bürgertum schlagartig an Ansehen. Die Nationalsozialisten beurteilten später sowohl den Matrosenanzug als auch Schülermützen als bürgerlich-reaktionär. Damit verschwand beides in den 30er-Jahren immer mehr aus dem Stadtbild. An ihre Stelle trat mit HJ- und BDM-Einheitskleidung eine neue, nationalsozialistische Uniformierung der Jugend. ANTJE LANG-LENDORFF
„Das Pädagogische Kleid“: bis 31. August, dienstags bis freitags 9 bis 17 Uhr, im Museum Kindheit und Jugend in der Wallstraße 32, Berlin-Mitte
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