: Eine und viele
Sigmund Freud und Judith Butler hätten ihre helle Freude gehabt: Die Berlin-Stipendiaten des LCB stellten sich mit einer Lesung vor
Über Sex zu reden, viele können davon ein Lied singen, ist privat nicht selten eine schwierige Angelegenheit; über Sex öffentlich vorzulesen, und das auch noch aus den eigenen Büchern, scheint nicht weniger schwierig zu sein. Diesen Eindruck konnte man zumindest am Dienstagabend bei einer Lesung im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) bekommen, wo sich die diesjährigen Berlin-Stipendiaten vorstellten.
Da verhedderte sich zum einen der aus Hannover stammende und in Leipzig studierende Tobias Hülswitt bei der Schilderung einer Liebe zu dritt, als er irgendwann die Zuordnungen nicht mehr richtig hinbekam: seine Zunge in ihrem Mund, sein Mund zwischen ihren Lippen, ihre Zunge, ihr Mund usw. und so wirr. „Ist ja schwer bei drei Personen, da mal ich doch am besten ein Diagramm“, zog sich Hülswitt elegant aus der Affäre und verwies darauf, dass man sich selbst bei Houellebecq nicht immer alles vorstellen könne.
Und da musste sich auch die in Paris lebende und arbeitende Anne Weber schwer zusammennehmen, um nicht dauernd in ein pubertierendes Kichern auszubrechen, als sie sich tiefer und tiefer in dem von ihr so sorgfältig aufgeschriebenen Wald aus Penissen und Scheiden verlor. Immerhin bekam sie am Ende die Kurve, öffnete ihr linkes Auge und sah sich beim Schreiben zu. Sigmund Freud und Judith Butler hätten ihre helle Freude gehabt. Doch auch das gut fünfzig Personen zählende Publikum nahm es weniger mit Stirnrunzeln als mit Humor. Zumal man sowieso das Gefühl hatte, dass, anders als die 3.000 Leute, die am Wochenende das Sommerfest des LCB bevölkerten, an diesem Abend eine kleine Familie zusammensaß, um mal zu gucken, was der Nachwuchs so macht. Kein Wunder wäre es gewesen, wenn LCB-Geschäftsführer Ulrich Janetzki vorgeschlagen hätte, die Lesung draußen stattfinden zu lassen, mit Blick auf den Wannsee und die untergehende Sonne.
Die Form aber blieb gewahrt. Janetzki bat das auf der Terrasse sitzende Publikum in den rustikalen Lesesaal mit dem seltsam wirkenden Säulengang und stellte dann kurz das seit den frühen Achtzigerjahren stattfindende und vom Senat unterstützte Stipendiatenprogramm vor, das jungen Autoren einen dreimonatigen Arbeitsaufenthalt bei freier Kost, Logis und auch ein paar Mark im LCB ermöglicht. Und er vergaß nicht, darauf hinzuweisen, dass man dafür im Gegenzug keine besonderen Leistungsnachweise verlange: „Rauskommen muss bei uns nichts.“
Bis auf Tobias Hülswitt aber, der das Kapitel „Leises Schnarchen“ aus seinem im Frühjahr erschienenen Roman „Saga“ vortrug, lasen alle Stipendiaten aus unveröffentlichten Manuskripten. Der Schweizer Lyriker Raphael Urweider trug sogar ein an diesem Tag produziertes Gedicht vor: „Über das Alphornblasen“, die Nummer zehn aus einer Gedichtserie mit dem Titel „Schweizer Artikel“. Urweiders Arbeiten klangen sehr klar und auf den Punkt gebracht, und sicher schlängelte er sich durch Passstraßen, „als Wandersmann mit einem Wanderstab, der zaubern kann“, und stürzte auch mit seinen ernsthaften Persiflagen auf Gottfried-Benn-Gedichte nicht ab.
Es waren an diesem Abend die beiden Lyriker, neben Urweider noch der Hamburger Hendrik Rost, die mit ihren Arbeiten einen positiveren und nachhaltigeren Eindruck machten. Tobias Hülswitts „Leises Schnarchen“ war bis auf die komplizierte Liebesszene eher unspektakulär; Anne Webers Text über die Liebe und ihr Wechselspiel mit der Natur wiederum wirkte erst angenehm drohend, kalt und technisch. Doch er mündete später in ein Testament der Angst, das wahrscheinlich nur Jochen Distelmeyer in helle Aufregung und Begeisterung versetzen würde, und verunglückte schließlich tatsächlich in dem Wald mit „den tausendjährigen Penissen, die leicht im Wind schwenken“ und den dazugehörigen Scheiden.
Anne Weber störte es nicht: „Ich bin im Einklang mit der Natur.“ Als einen Versuch, „mich hereinzuschrauben in mich selbst“, bezeichnete sie ihren Roman, der im nächsten Jahr unter dem Titel „Erste Person“ bei Suhrkamp erscheinen soll.
Nach ihrer Lesung aber war man ganz froh, dass noch Hendrik Rost folgte und aus einer Sammlung namens „Person Plural“ las. Mit ihm ging man doch viel lieber zu den vielen („Ad plures ire“ hieß eines seiner Gedichte), als sich mit Anne Weber wohin auch immer zu schrauben.
GERRIT BARTELS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen