juttas neue welt
: In der Crocommunity

Das Leben am Rhein wird momentan überschattet von der Anwesenheit eines Wesens, das hier eigentlich nichts zu suchen hat. Die Rede ist nicht von einem Außerirdischen, sondern von dem mysteriösen Krokodil, das seit einigen Wochen die Anrheiner rund um Mainz in Atem hält. Und statt wie sonst im Fluss zu baden, bleibt auch uns nichts anderes übrig, als auf der Wasseroberfläche Steine hopsen zu lassen oder mit einer Limo in der Hand am Ufer auf der Lauer zu liegen. Alles mit ausreichendem Sicherheitsabstand.

Obwohl uns das Krokodil um die sommerlichen Schwimmfreuden bringt, sind wir doch alle der Meinung, dass es dringend einen Namen braucht. „Loreley“ war ja schon mal im Pressegespräch, aber da stimmt die Frisur einfach nicht. Die Mitbewohnerin als modisch Veranlagte plädiert für „Croco Chanel“. Sie ist auch die Einzige, die sich mit einer Steinschleuder bewaffnet hat und sieht sich schon als stolze Besitzerin einer selbst genähten und mit ihren Initialen bestickten Krokohandtasche.

Unsere Begleitschützer hingegen streiten sich heftig, ob das Tier jetzt „Alfred Hitchcroc“ oder doch „Ally Reptil“ heißen soll. Und ich wiederum bestehe darauf, dass wir uns auf „Lara Crocoft“ einigen sollten. Schließlich hat sich die Ausreißerin nicht umsonst den Dschungel am Rheinknie für ihre Morgentoilette ausgesucht.

Mittlerweile habe ich mir angewöhnt, die Ereignisse meines Alltags im Paralleluniversum Internet noch einmal zu durchleben. Also stand eine Onlinesitzung ganz unter dem Zeichen des Krokodils. (Was sehr astrologisch klingt: „Mein Sternzeichen? Krokodil.“) Schnell wurde mir klar: Es ist kein Wunder, dass hierzulande Reptilien regelmäßig Freigang haben, denn ihre Besitzer haben Besseres zu tun, als sich um die Hochsicherheit des Terrariums zu kümmern. Stattdessen hieven sie ihre Haustierchen ins Netz. Und verbünden sich im Reptiring unter www.emphasinlabs.de/emphaser/d_ring.htm. Hier, in der Crocommunity, erfuhr ich allerlei über „nicht eklige, nicht schleimige, nicht bissige Reptilien“. Ich betrachtete Fotogalerien von Echsen und Leguanen, wohnte via Webcam einer Kaimanfütterung bei und lernte bei der Deutschen Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde ein Crocodylus porosus von einem Alligator mississippiensis zu unterscheiden. Und schloss daraus, dass unser ungebetener Gast im Fachjargon sicher Crocodylus rhenusiensus heißt.

Oder so ähnlich. Doch die Euphorie der Reptilianer konnte mich nicht überzeugen – und bevor ich mich völlig gänsehäutete, verließ ich den Ring der Kriechtiere in Richtung apl.discovery.com/fansites/crochunter/crochunter.html. Hier kann man nämlich einen eigenen kleinen Film produzieren, in dem ein Zeichentrickkrokodil die Hauptrolle spielt. Der Streifen lässt sich nach Abschluss der Dreharbeiten einfach per E-Mail verschicken. Was ich auch tat, doch damit hatte ich erst einmal genug von echtem und virtuellem Viehzeug im Cyberspace – lieber wollte ich wieder gemütlich am Rhein sitzen und auf unser eigenes Vorstadtkrokodil lauern.

Einige behaupten ja, die Geschichte sei bloß erfunden, damit die Zeitungen im Sommerloch ihre Spalten voll kriegen. Ich kann das widerlegen: Vor zwei Tagen habe ich das Krokodil tatsächlich getroffen. Hier in Mainz, am Rheinufer Höhe Frauenlobstraße. Es hat mir erzählt, wie traurig es darüber sei, dass viele Menschen an seiner Existenz zweifeln. Dabei wischte es sich eine Krokodilsträne aus dem linken Augenwinkel. „Mach dir nix draus, ich glaube an dich!“ tröstete ich. Jetzt sind wir befreundet, und ich kann endlich wieder sorglos im Rhein schwimmen. JUTTA HEESS

pechlucky@gmx.de