Mit der Wende kam das Fett

Einst gehörten die ostdeutschen Schulkinder zu den schlanksten in Europa. Doch mit den neuen Essgewohnheiten legten sie gewaltig zu

Mitte der 80er-Jahre konnten sich die Schulkinder in der DDR rühmen, zu den schlanksten Europas und der industrialisierten Welt zu zählen. War die junge Garde des Proletariats kaum mit Fettpolstern ausgerüstet, so futterten sich die Gleichaltrigen im Westen mit Süßigkeiten, Fritten und Hamburgern rund. Doch seit der deutschen Vereinigung holen die Kinder im Osten mächtig auf. Von 1975 bis 1995 hat sich die Zahl der stark übergewichtigen Kinder in den neuen Bundesländern verdoppelt. Der größte Gewichtsanstieg wurde in der Dekade zwischen 1985 und 1995, also den Jahren der Wende, verortet. Jedes fünfte Mädchen in Jena litt 1995 unter Übergewicht, jedes zweite davon sogar unter Adipositas. Zu diesen Ergebnissen kommt das Institut für Humangenetik und Anthropologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena bei der Auswertung der seit 1880 in Jena kontinuierlich durchgeführten Schulkinderuntersuchungen.

Angestiegen ist nach den Erkenntnissen des Instituts auch die Körperhöhe der Schulkinder. Von 1880 bis 1995 machten die Wissenschaftler einen Anstieg bei Jungen um durchschnittlich 16,4 Zentimeter aus. Mädchen wurden im gleichen Bemessungszeitraum um 15,3 Zentimeter größer. Der bedeutendste Zuwachs, nämlich 2,7 Zentimeter bei Jungen und 2,3 Zentimeter bei Mädchen, fand in der Zeit von 1985 bis 1995 statt. Während die Körperhöhe bei beiden Geschlechtern 1995 etwa zwei Prozent größer ist als 1985, stieg das Körpergewicht allerdings um mehr als sieben Prozent an.

Die Jenaer Wissenschaftler folgern, dass der sprunghafte Anstieg von Übergewicht und Adipositas bei Jenaer Kindern auf die durch die Wende 1989 veränderten Lebensbedingungen zurückzuführen sei. Übergewichtsfördernde Bedingungen hätten sich zunehmend auf dem Gebiet der ehemaligen DDR etabliert. Dazu zählen verändertes Freizeitverhalten, vor allem eine Zunahme der am Fernseh- und Computerbildschirm verbrachten Zeit, aber auch eine Veränderung der Ernährung hin zu Fast Food und häufigem Süßigkeitenkonsum. Somit komme es zu einer Angleichung an die Verhältnisse in den alten Bundesländern. ANDREA SCHNEIDER