Unsagbare Wahrheiten

Erstmals liegt eine international vergleichende Studie über die Arbeit von Wahrheitskommissionen vor. Ein Gespräch mit der Autorin Priscilla B. Hayner über den heilenden Umgang mit der Vergangenheit, Amnestievereinbarungen und die Veröffentlichung von Täternamen

von MARTIN JANDER und WERNER KIONTKE

taz: Frau Hayner, Sie haben eine vergleichende Studie über 21 Wahrheitskommissionen publiziert. Warum?

Priscilla B. Hayner: Ich hatte 1992 für drei Monate die Chance, mit der UN-Wahrheitskommission für El Salvador zusammenzuarbeiten. Mich beeindruckten die Komplexität und die Fülle neuer Probleme, die diese Kommission in kurzer Zeit bewältigen musste, ohne über Erfahrungen aus anderen Ländern zu verfügen. 1993 begann ich mit einer vergleichenden Studie, um die Arbeit zukünftiger Wahrheitskommissionen zu unterstützen.

Der Titel Ihres Buches heißt „Unspeakable Truths‘“. Was meinen Sie mit „unsagbaren Wahrheiten“?

Das Wort unspeakable hat im Englischen einen doppelten Sinn – es bedeutet „unsagbar“, aber auch „entsetzlich“. Wenn man versucht zur Wahrheit vorzudringen, muss man berücksichtigen, dass einige Erfahrungen so furchtbar sind, dass sie nicht ausgesprochen werden können. Opfer scheuen sich oft, die entsetzlichen Details zu offenbaren, oder sind noch zu traumatisiert, das Erfahrene in Gedanken erneut zu durchleben. Der Prozess des Sprechens über eine lange zurückliegende Gräueltat muss für die Opfer nicht immer unmittelbar kathartisch sein. Es wäre naiv, die psychologischen und politischen Verästelungen der Wahrheiten, die wir aufdecken wollen, zu verkennen.

In Deutschland fragen sich viele Menschen: „Warum Wunden öffnen, die geschlossen sind?“ Was würden Sie antworten? Brauchen wir Wahrheitskommissionen?

Wunden der Vergangenheit lassen sich nach einer Periode von Repression und Menschenrechtsverletzungen nicht schnell schließen. Weiterschwärende Wunden aber sind Risikofaktoren für die Fähigkeit, aus Vergangenem Lehren zu ziehen. Sie gefährden Versöhnung und Frieden. Eigentlich sollte eine Wahrheitskommission nicht beabsichtigen, Angelegenheiten der Vergangenheit zu „schließen“, sondern sie eher zu öffnen – für eine umfassende Diskussion, damit erkennbar wird, wie groß der Schmerz ist, selbst wenn von ihm bislang nur wenig gesprochen wurde. Auch wenn ein solcher Reflektionsprozess zeitweise schmerzhaft ist, profitieren doch beide davon, das einzelne Opfer wie auch die gesamte Gesellschaft.

Die Wahrheitskommissionen, die Sie beschreiben, sind vornehmlich Werkzeuge innerhalb eines Übergangsprozesses von einer Diktatur zu einer Demokratie. Welche Unterschiede konnten Sie in ihrer Untersuchung herausarbeiten?

Einige Kommissionen wurden aufgrund eines Gesetzes eingerichtet, andere durch eine Anordnung des Staatspräsidenten und wieder andere durch eine Vereinbarung innerhalb eines Friedensabkommens am Ende eines Bürgerkrieges. Zwei Kommissionen, in Guatemala und El Salvador, wurden von der UNO eingerichtet, nachdem Beteiligte vor Ort sich über die Bedingungen geeinigt hatten. Einigen Kommissionen wurden größere Befugnisse eingeräumt, etwa die Macht, Individuen vor die Kommission zu zitieren oder Personen und Institutionen zur Herausgabe von Dokumenten zu zwingen. Die meisten bisherigen Kommissionen haben keine öffentlichen Hearings durchgeführt, zumeist um die Sicherheit der Opfer zu garantieren.

Ist es denn tatsächlich sinnvoll, die Öffentlichkeit außen vor zu lassen?

Die Erfahrungen mit öffentlichen Anhörungen belegen, dass ein Land wohl beraten ist, wenigstens einige öffentliche Anhörungen durchzuführen. Erst dies ermöglicht es der gesamten Bevölkerung, lange verborgene oder verleugnete Wahrheiten neu zu überdenken und anzufangen, die Leiden der Opfer zu verstehen.

Nur wenige Themen lösen so viele Kontroversen aus wie die Frage, ob eine Kommission die Namen derjenigen veröffentlichen soll, die sie für die Verbrechen gegen die Menschenrechte für verantwortlich hält. Was würden Sie empfehlen?

Wenn bestimmte Verfahrensstandards eingehalten werden, sollte eine Wahrheitskommission in Betracht ziehen, die Namen bestimmter Täter zu nennen. Aber das ist eine schwierige Entscheidung, die möglicherweise politische Auswirkungen haben kann auf die Sicherheit sowohl der Zeugen als auch der Täter. Deswegen sollte es keine pauschalen Empfehlungen geben, sondern nur eine Ermutigung, dass jede Kommission sorgfältig die Möglichkeit prüft, Namen zu nennen.

Was sind die wesentlichen praktischen Probleme, die eine Wahrheitskommission lösen muss?

Eine Kommission muss über angemessene Prozessprozeduren entscheiden. Dort, wo sie Namen von Tätern in ihrem Report nennt, muss sie beschuldigten Personen erlauben, auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu erwidern. Sie muss auch entscheiden, welcher Grad von Beweisen ihr ausreicht, eine Sache als wahr anzusehen; sie muss die Form festlegen, in der sie Aussagen von Opfern aufnimmt. In den meisten Fällen muss sie eine Datenbank anlegen, um die Informationen, die sie von einigen tausend Opfern und Familienmitgliedern erhält, aufzuzeichnen und zu analysieren. Es ist viel komplizierter, solche Informationen zu sammeln und gerecht auszuwerten, als zunächst angenommen wird.

Sie beschreiben die Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages, die sich mit der Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur beschäftigt haben, als Beispiel einer Wahrheitskommission. So haben wir das noch nie gehört.

Eine Reihe internationaler Beobachter hat den Enquetekommissionen den Charakter einer Wahrheitskommission zugeschrieben, etwa Tina Rosenberg in ihrem Buch „Die Rache der Geschichte“ (München 1997). Sie hat sie sogar als bis dato erfolgreichste Wahrheitskommissionen bezeichnet.

Die Enquetekommissionen als lehrreiches Beispiel?

Mir ist völlig klar, dass dieses Beispiel sehr verschieden von den meisten anderen Gremien ist und auch in Deutschland nicht als Wahrheitskommission angesehen wird. Die Enquetekommissionen sind jedoch – besonders im Vergleich – ein interessantes Beispiel für diejenigen, die über ein mehr an der wissenschaftlichen Forschung orientiertes Modell nachdenken.

Werden Wahrheitskommissionen nicht auch als ein Mittel benutzt, Gerichtsprozesse zu vermeiden?

Obwohl Täter – einschließlich der Regierungen, die für die Rechtsverletzungen verantwortlich sind – hoffen, dass Wahrheitskommissionen Gerichtsprozesse verhindern, ist das Gegenteil wahr. Es gibt eine Reihe Kommissionen, deren Arbeit die Tragweite von später folgenden Anklagen vor Gericht sogar noch gesteigert hat. Es ist deshalb wichtig, die Möglichkeit späterer Rechtsverfolgungen offen zu lassen und jede Vereinbarung über Amnestie zu vermeiden. Die Umstände wechseln, und die Möglichkeiten für Gerichtsprozesse können sich später ergeben.

Sie verstehen Wahrheitskommissionen als eine Ergänzung des Internationalen Gerichtshofs?

Die Arbeit einer Wahrheitskommission kann dem Internationalen Gerichtshof auf vielerlei Weise dienlich sein: mit einem Überblick über die Arten vergangener Rechtsverletzungen, mit Hinweisen darauf, wo die Verantwortlichen für einige der schlimmsten Verbrechen zu suchen sind. Die Kommission kann Protokolle übersetzen und Aufzeichnungen zugänglich machen, insbesondere dort, wo sie aus Einheimischen besteht und in der Landessprache arbeitet, während die Angehörigen des Internationalen Gerichts nicht unbedingt umfangreiche Sprachkenntnisse haben. Mit Hilfe der in Protokollen festgehaltenen Aussagen von Opfern kann es gelingen, bestimmte Täter zu identifizieren. Außerdem lässt sich feststellen, wer von den Opfern oder Zeugen vor Gericht aussagen kann, wenn es zur Verhandlung kommt.

Jede Wahrheitssuche wird, so schreiben Sie, von äußeren Faktoren beeinflusst. Welche meinen Sie?

Das reicht von örtlichen Menschenrechtsgruppen bis zu internationalen Akteuren, die eine Kommission unterstützen, sowie ausländischen Regierungen, die in ihren Geheimarchiven Informationen haben, die der Kommission nützen. Außerdem kann es natürlich Personen geben, die die Kommissionsarbeit – auch unter Androhung von Gewalt – blockieren wollen. Einerseits ist die Kommission auf Unterstützung von außen angewiesen. Gleichzeitig muss sie die Möglichkeit einkalkulieren, mit Menschen konfrontiert zu werden, die ein Interesse daran haben, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt.

Welche Rolle sehen Sie für die internationale Gemeinschaft?

Wenn Regierungsstellen oder Nichtregierungsorganisationen darum ersuchen, sollte die internationale Gemeinschaft ein Land dabei unterstützen, aus den Erfahrungen anderer Länder zu lernen. Jedoch sollten einem Land weder Lösungen noch politische Schritte aufgezwungen werden. Die Entscheidungen, ob und wie ein Land seine Vergangenheit bearbeitet, müssen dort selbst getroffen werden.

Nach dem Ende ihrer Arbeit geben Wahrheitskommissionen oft Empfehlungen, die Handlungen des Gesetzgebers erfordern. Wie oft wurde diesen Empfehlungen gefolgt?

Während eine Anzahl von Schlüsselempfehlungen verwirklicht wurde – in El Salvador führten sie zum Beispiel zu entscheidenden Rechtsreformen, in Chile zu einem umfangreichen Entschädigungsprogramm –, sind viele andere unberücksichtigt geblieben. In manchen Kommissionsberichten sind die Empfehlungen so allgemein und vage, dass sie nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden konnten; in anderen Fällen wird der Report in aller Stille angefertigt und die Regierung zeigt wenig Interesse, die vorgeschlagenen Reformen umzusetzen. Dies ist einer der Bereiche, auf die wir unsere größte Aufmerksamkeit richten sollten, um künftige Kommissionen zu stärken.

Wie könnte man das Gewicht der Empfehlungen erhöhen?

In letzter Zeit gab es einige interessante Entwicklungen. In El Salvador etwa wurde eine Vorabvereinbarung getroffen, die die Kommissionsempfehlungen für obligatorisch erklärt. Auf ähnliche Weise hat Sierra Leone seine Kommission ermächtigt. Dort wurde vorab vereinbart, ein eigenes Gremium einzurichten, das regelmäßig darüber berichtet, wie weit den Empfehlungen der Kommission Folge geleistet wurde.

Manchmal entwickeln Wahrheitskommission auch Programme zur Entschädigung der Opfer. Was sind die wesentlichen Schwierigkeiten dabei?

Die augenfälligste Schwierigkeit ist, dass zahlreiche Länder im Umbruch schlicht nicht die finanziellen Ressourcen haben, um für viele tausende von Opfern Entschädigung bereitzustellen. Ironischerweise ist es der gerade neu sich demokratisierende Staat, oftmals von denjenigen geführt, die lange Zeit gegen die Praktiken des Rechtsmissbrauchs des vorherigen Regimes gekämpft haben, der sich mit den schwierigen Forderungen nach Staatsentschädigungen herumschlagen muss.

Wie sollte sich eine neue demokratische Regierung verhalten?

Es gibt andere Möglichkeiten jenseits direkter finanzieller Entschädigungen – etwa symbolische Erinnerungsstätten, Schulen oder kommunale Einrichtungen zum Gedenken an Schlüsselereignisse oder prominente Opfer. Oder man gewährt Opfern oder deren Familienmitgliedern eine kostenfreie Universitätsausbildung. Die Erfahrung zeigt, dass Wahrheitskommissionen selbst die Entschädigungen nicht zuerkennen sollten, sondern lediglich Empfehlungen aussprechen.

Zusammenfassend: Was sind die Hauptkriterien, die über den Erfolg einer Kommission entscheiden?

Es gibt drei unterschiedliche Ebenen. Zu beachten sind die Verfahrensweisen einer Kommission (wie sie mit Opfern arbeitet, ob sie die Öffentlichkeit miteinbezieht), das Kommissionsprodukt (die Qualität ihres Berichts und das Maß an Wahrheit, die aufgedeckt wurde) sowie die Langzeitwirkung der Kommissionsarbeit (ob empfohlene Reformen umgesetzt werden, ob der Bericht weite Verbreitung findet). Sicher, eine Kommission kann auf einer Ebene erfolgreich sein, während sie auf einer anderen weniger gut arbeitet. Häufig können die Beiträge einer Kommission erst Jahre später beurteilt werden, etwa wenn ein Wechsel in der politischen Dynamik eintritt und dadurch der Weg frei wird zu strafrechtlicher Verfolgung oder sich andere Möglichkeiten eröffnen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, Erinnerungsarbeit zu leisten oder Reformen in die Wege zu leiten.

Die Übersetzung besorgte Martin Jander; Barbara Ahrens hat sie korrigiertPriscilla B. Hayner: Unspeakable Truths. Confronting State Terror and Atrocity, Routledge, New York und London 2001, 304 Seiten, 16,99 PfundMARTIN JANDER, 46, ist Historiker und Politikwissenschaftler, er lehrt an der Freien Universität Berlin. WERNER KIONTKE, 56, ist Chefredakteur der Zeitschrift „Horch und Guck“ des Bürgerkomitees 15. JanuarDas Gespräch ist ein stark gekürzter und überarbeiteter Abdruck aus „Horch und Guck“ (Hefte 33 und 34, 10. Jahrgang, 2001), Redaktionsadresse: Ruschestraße 103, Haus 1, 10365 Berlin, Telefon: 030-57 79 49 81, Mail: