Neuer, mündiger Hedonismus

Berlin gehört allen Berlinern und wir sind alle eine große Demonstration – die Love Parade hat Nachwuchs bekommen und ihm die Namen Rettet den Tiergarten, Fuck Parade, Karneval Erotica und Love Week gegeben

Als vor einigen Monaten die Bürgerinitiative „Rettet den Tiergarten“ für den 14. Juli einen Demonstrationszug durch den Tiergarten anmeldete, war die Aufregung groß. Die Love Parade in ihren Grundfesten erschüttert! Ein neuer Standort muss her! Ein neuer Termin auch! Was „Rettet den Tiergarten“ nicht bedacht hatte: Die Love Parade ist eine harte Nuss. Immer schön positiv nach vorn denken ist ihr Wesen.

Und so hat sie aus der Terminnot eine Tugend gemacht, sich selbst eine Woche später angemeldet und kurzerhand die „Love Week“ ausgerufen, die heute Nacht im noch einmal über eine Woche lang geöffneten E-Werk beginnt. 10 Nächte, 150 Partys lautet die neue Devise. Noch größer, noch länger, noch lieber: Love Parade. Doch nicht nur das. Nach Ablegern in Tel Aviv, Wien, Newcastle, Kapstadt, Zürich und Hannover hat die Love Parade Berliner Nachwuchs bekommen – auf dass sie sie sich in alle Ewigkeit fortpflanze.

Da ist zum einen natürlich die Demo „Rettet den Tiergarten“ selbst, die heute unter dem Motto „Der Tiergarten gehört allen Berlinern“ um 14 Uhr an der Ecke S-Bahnhof Tiergarten/Straße des 17. Juni“ beginnt. Dann der vom KitKat-Club organisierte „Karneval Erotica“, der um 16 Uhr vom Olivaer Platz seinen Marsch den Kurfürstendamm herunter beginnt. Und schließlich der originärste Zögling der Love Parade, ihr Brutus gewissermaßen: die Fuck Parade. Jahrelang an der Brust der Love Parade genährt, schlägt sie sich dieses Jahr zum ersten Mal allein durch. Nach dem gestrigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ihr allerdings der Status als Demo aberkannt worden. Sie startet nach neuerlicher Anmeldung trotzdem als Demo mit Sprechchören, Megafonen und Spruchbändern um 14 Uhr am Frankfurter Tor.

Wir stellen nun der besseren Orientierung halber den Nachwuchs der Love Parade unter sechs Aspekten vor: 1. Gesellschaftspoltischer Anspruch, 2. Status, 3. Musik, 4. Publikum, 5. Spaßfaktor, 6. Prognose für die Zukunft.

Rettet den Tiergarten

1.: Der Name ist Programm, es geht es um den Tiergarten. Um den blühenden, zwitschernden und ruhigen Tiergarten, am 14. Juli und allen anderen Tagen des Jahres. Auf dass man auch in Zukunft ohne Liebe, Raves und Beck’s-Bier ungestört joggen, radeln und grillen (?) kann. Botschaften: Der Tiergarten gehört allen Berlinern. Berlin ist eine Familie. Friede, Freude, Berlin.

2.: Demonstration

3.: Keine. Möglich, dass mitdemonstrierende Raver Ghettoblaster mitbringen. Dann: Techno. Auch möglich, dass andere Demonstrationsteilnehmer eben solche dabei haben. Dann: von Peter Maffay („Über sieben Brücken musst du gehen“) über Peter Alexander („Die kleine Kneipe“), Tocotronic („Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“), Jan Delay („Ich will nicht, dass ihr meine Lieder singt“) bis zu Blumfeld („Testament der Angst“).

4.: Bürger, Hundeberliner, Anwohner des Tiergartens, Raver.

5.: Mäßig bis hoch. Kommt weniger auf den Anteil der Raver an, als auf die Leute, die zu den Ursprüngen der Love Parade zurückkehren wollen.

6.: Könnte größer als die Love Parade werden. Die „Aktion 2000“ hat sich schon angeschlossen. Sie versucht nächste Woche die Love Parade zu stören. Wenn das nicht klappt, heißt die Devise: In der Love Parade aufgehen, um sie von innen zu zersetzen. Gründung von „Tiergarten 4000“ könnte weitere Kreise ziehen. Weitere Initiativen kurz vor der Gründung: „Rettet die Hasenheide“, „Rettet die Krumme Lanke“.

Fuck Parade

1.: Der Fuck Parade war die Love Parade immer zu unpolitisch. Ist gegen Clubschließungen und für subkulturelle Aktivitäten. Demonstriert nun für die Anerkennung als Demonstration. Auch Marc Wohlrabe ist unten mit ihr. Botschaften: „Wir sind eine große Familie, die sich immer streitet“ und „Gabba Gabba Hey“.

2.: Kommerzielle Versammlung (Bundesverfassungsgericht), Demonstration (Fuck Demo).

3.: Gabba, Drum & Bass, Darkstep, Two Step, Punk, Panacea.

4.: Clubber, Studenten, ehemalige Hausbesetzer, Globalisierungsgegner, Marc Wohlrabe, Punks, Anwohner der Bezirke Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Mitte, Marzahn.

5.: Mäßig bis hoch. Eine gewisse Verbissenheit ist manchmal nicht zu verkennen, aller Erfahrung nach aber zu vernachlässigen.

6.: Könnte größer als die Love Parade werden. Produziert in naher Zukunft die Fuck-Fuck-Parade.

Karneval Erotica

1.: Aufbruch in ein hedonistisches Zeitalter. Kreation eines neuen Hedonismus. Veranstalter vergleichen ihren Karneval gern mit dem Sturm auf die Bastille, der am 14. Juli 1789 stattfand (hedonistische Freiheitsrevolution) und rufen zur freien Entfaltung und Selbstbestimmung des Menschen ohne staatliche Bevormundung auf (gegen die staatsbürokratische Entmündigungsstrategie). Demonstrieren auch für das Recht auf Demonstrationsfreiheit von Love Parade und Fuck Parade. Nachzulesen alles in einem politischen Manifest im Internet. Botschaften: Freiheit, Kreativität, Vielfalt. Tainted Love. Love Is Like Oxygen.

2.: Demonstration.

3.: House, Maximal-Techno, Minimal-Techno, New Order, Soft Cell, Blanc Mange, Sisters Of Mercy, Banana-Split.

4.: Stammgäste des KitKat-Clubs, Raver, Anwohner des Ku’damms.

5.: Hoch, um viele Grade verfeinerter als die Love Parade.

6.: Könnte größer als die Love Parade werden. Auch die hat mal klein auf dem Kurfürstendamm angefangen. GERRIT BARTELS