Das Böse bannen

Sexualstraftäter nicht therapieren, sondern wegsperren – das ist schon heute die Strategie. Dabei gäbe es überzeugende und bereits erprobte Therapieansätze

Therapieangebote zur Rückfallprophylaxe sind in der Regel hoffnungslos überbelegt und unterausgestattet

In aufgeregten Zeiten gibt es keine vernünftige Kriminalpolitik. Schröders Forderung nach lebenslänglichem „Wegsperren“ von pädophilen Sexualstraftätern wäre selbst eine Affekttat zu nennen, wenn sie nicht gezielt auf den gerechten Volkszorn setzen würde, der sich an Fällen sexuell motivierten Kindesmissbrauchs regelmäßig entzündet. Einen affektiven Ausnahmezustand kann man dem Kanzler nicht zubilligen. Als Rechtsanwalt wäre er gewiss in der Lage, den verfassungsrechtlichen Unsinn seiner großsprecherischen Verlautbarung einzusehen und gemäß dieser Einsicht handeln. Aber der mediale Effekt ist zu groß, um die verführerische Gelegenheit verstreichen zu lassen, sich wieder einmal als Volkskanzler zu präsentieren. Der Hang zum Populismus – auch in diesem Fall erweist er sich als die fatale Neigung, mit Stimmungen eine Politik zu machen, an deren Vernunft zu zweifeln ist.

Worin besteht nun die sträfliche Unvernunft des erregten Kanzlerworts? Eine kühle Analyse der Sexualstraftaten müsste zunächst einige Tatsachen in Rechnung stellen. Gegenüber den 70er-Jahren ist die Zahl von Sexualmorden an Kindern in Westeuropa kontinuierlich zurückgegangen; in Deutschland sind es noch zwei bis drei pro Jahr. Missbrauchshandlungen im familiären Intimraum werden auf bis zu 100.000 geschätzt. Während in Großbritannien im letzten Jahr 80 Kinder in Familien getötet wurden, waren 7 Kinder Opfer von Sexualstraftaten. Schuldfähige Täter kommen in Deutschland – bei einer einschlägigen Verurteilung ab einer bestimmten Höhe – zur Verbüßung ihrer Strafe in so genannte sozialtherapeutische Anstalten, die als Institutionen des Justizvollzugs in die Länderhoheit fallen. Diese sollen alle möglichen Therapieangebote zur Rückfallprophylaxe enthalten und sind in der Regel dort, wo sie überhaupt existieren, hoffnungslos überbelegt und unterausgestattet. Wegen einer seelischen Erkrankung schuldunfähige Täter kommen in Einrichtungen der forensischen Psychiatrie, in denen sie auf unbestimmte Zeitdauer so lange behandelt werden, bis eine günstige Prognose ihre Entlassung erlaubt. Im so genannten Maßregelvollzug waren in den 90er-Jahren etwa 4.000 Personen (bei einer Zahl von etwa 50.000 in üblichen Haftanstalten Einsitzenden), davon ein Viertel Sexualstraftäter. Die Verweildauer von durchschnittlich viereinhalb Jahren nimmt aus Gründen chronischer Überbelegung kontinuierlich ab, dafür werden die Anstalten immer sicherer.

Schon diese wenigen Zahlen demonstrieren, dass das Wegsperren jetzt schon die bevorzugte Strategie zu sein scheint. Die suggestive Unterstellung, auffällig gewordene Sexualstraftäter würden von Strafverfolgung und Justiz milde behandelt, entbehrt ebenso der empirischen Basis wie die flotte Behauptung Schröders, ein liberales „Gutachterkartell“ sei dafür verantwortlich, dass gefährliche, nicht therapierbare Monster frei herumliefen. Die Aufklärungsquote, 1989 noch bei 58 Prozent, ist seitdem auf 70 Prozent gestiegen. Die Rückfallquote, das zeigen gut belegte Studien, liegt je nach Sexualdelikt zwischen 12 und 25 Prozent. Nur für Wiederholungstäter – und nicht für die Masse der Erst- oder Einmaltäter – wäre überhaupt und dann erst nach einem kompetent durchgeführten Therapieversuch, die Frage der Sicherungsverwahrung ernsthaft zu diskutieren. Allen Fakten zum Trotz: Der Vorschlag des SPD-Kanzlers Schröder wird bereitwillig vom CDU-Kanzlerkandidaten im Wartestand, Koch, angenommen. Zwei Populisten im sommerlichen Vorwahlkampf.

Strikte Ausgrenzung und strenge Verwahrung statt Therapie heißt die Parole, in der sich ein Geist ausdrückt, der das Böse dadurch bannen möchte, dass er es einsperrt. Mit dem Resozialisierungsgedanken unseres Strafrechts ist dieser Geist nicht zu vereinbaren. Freilich offenbart auch die Gegenparole von der generellen Therapierbarkeit des Sexualstraftäters, der als Kind selbst Opfer elterlicher Gewaltexzesse gewesen ist, eine eigenartige Auffassung vom Rechtsstaat und den Ursachen gewalttätigen Verhaltens. Der „furor therapeuticus“ neigt nämlich dazu, Verantwortung in die Umstände zu verlegen und dem Täter eine Opferidentität zu bestätigen, die gar nicht so weit entfernt ist von dem latenten Selbstbild, das seinen Übergriffen auf andere zugrunde liegt: Er rächt sich für erlittenes Unrecht; er nimmt sich, was man ihm vorenthalten hat; er übt nun die Gewalt aus, die er seinerzeit erlitten hat. Das narzisstische Rachemotiv, das den sexuell agierenden Gewalttäter unbewusst antreibt, verbindet sich nur zu gut mit der Forderung nach seiner Exklusion durch eine Gesellschaft, die sich vom Vergehen am unschuldigen Kind im Kern verletzt fühlt.

Für die Engführung der deutschen Debatte zwischen Therapie und Wegsperren gibt es in den angloamerikanischen Ländern eine Alternative. Ein Richter in Corpus Christi (Texas) hat – auf der Grundlage eines US-Gesetzes – 50 auf Bewährung entlassene Sexualdelinquenten nach eindringlicher Befragung mit Auflagen versehen. 14 von ihnen mussten vor ihrem Haus ein Schild aufstellen mit der Aufschrift: „Hier wohnt ein verurteilter Sexualstraftäter!“ Andere wurden genötigt, Aufklärungsbriefe an die Nachbarn zu schreiben oder ihre Autos mit entsprechende Aufklebern zu versehen.

Die Unterstellung, auffällig gewordene Sexualstraftäter würden milde behandelt, ist schlicht falsch

Das in Großbritannien seit 1997 geführte Register, das ein weites Spektrum von sexueller Belästigung über exhibitionistische Handlungen und pädophilen Missbrauch bis zu kapitalen Sexualdelikten umfasst, enthält über 110.000 Namen. Es ist bisher nur einem eng begrenzten Kreis von Personen und Institutionen zugänglich, zu dem Kindergartenleitungen, Schuldirektionen und Vermieter gehören. Die englische Zeitung News of the World hat in einer wochenlangen Kampagne mit Fotos versehene Namen aus diesem Sexualstraftatregister veröffentlicht, um den Gesetzgeber zu zwingen, es für jedermann zugänglich zu machen. Hysterische Hetzjagden, Rufmordkampagnen bis an die Grenze zur Lynchjustiz waren die Folge. Bei aller Empörung über diese Praktiken gesellschaftlicher Ächtung durch einen entfesselten Mob: In der Institution des Prangers steckt der Versuch, durch beschämende öffentliche Bloßstellung steuernd oder wenigstens hemmend auf ein Verhalten einzuwirken, das sich sonst der sozialen Kontrolle gern entzieht. Ein solcher Versuch wäre freilich moralisch glaubwürdiger, wenn er sich auch den florierenden Formen sexueller Gewalt widmete, wie sie etwa in der Kinderprostitution der Dritten Welt oder der pädophilen Pornografieproduktion im Internet ausgeübt wird.

Die erfolgreichsten Therapieansätze in Spezialeinrichtungen stammen aus den Niederlanden und Skandinavien: Sie konfrontieren den Täter massiv mit seiner Tat und zwingen ihm entsprechende Rückmeldungen aus der Opferperspektive auf. Sie behandeln ihn menschlich – als jemanden, der erst zum Subjekt werden kann, indem er lernt, den anderen als empfindungsfähiges und integres Subjekt anzuerkennen. MARTIN ALTMEYER