Betr.: Carneval Erotica

vom Carneval EroticaKATJA BIGALKE

Technobeats wummern von Demonstrationswagen, Tänzer im Erotikoutfit spielen aneinander herum und werfen Schaulustigen Kondome zu. Auf dem Ku’damm sieht es fast aus wie bei der Love Parade. Doch beim Carneval Erotica geht es nicht um Musik oder Liebe, sondern um Sex. Sadomasofreunde in Lack und Leder, Tunten und Transen im Nonnendress, Frauen in Ganzkörpernetzanzügen mit Eingriff, Männer in Latexshorts und Stachelhalsband. Hier wird der Aufbruch ins hedonistische Zeitalter ausgerufen. Und dazu kammen laut Veranstalter immerhin 120.000 Leute. Nicht Teilnehmer, sondern Zuschauer.

Zwischen den Technoeinlagen gibt es immer wieder Wortbeiträge: „Nieder mit der Doppelmoral!“, fordert Simon Thaur, Betreiber des multisexuellen KitKat Clubs, der zur Demonstration aufgerufen hatte. Dem „klerikal-asketischen Alt-68er-Vorurteil“, das Politikverständnis der Technogeneration sei fadenscheinig und diene nur „dem Drang nach öffentlichem Exhibitionismus“, wollen die Veranstalter einen neuen Typ des freiheitlichen Hedonismus entgegensetzen. Die Betonung liegt auf der Sub-Clubkultur. Mit dem Sub konnten sich die Veranstalter nämlich – im Gegensatz zur Love und Fuck Parade – den Status der Demonstration erkämpfen.

Annett, ehemalige Raverin, heute Domina und Türsteherin von dem Fetischpartyveranstalter Zipzone aus Augsburg, ist das Anliegen sehr wichtig. Zipzone unterliegt dem Gaststättengesetz, das „unsittliche Praktiken“ nicht zulässt. Das findet die 30-Jährige verlogen und unzeitgemäß, „schließlich kommen die unterschiedlichsten Leute zu uns. Wir sehen vielleicht anders aus“, sagt die mit String und Lederstriemenkorsett Bekleidete, „aber wir gehen höflich miteinander um, keiner wird bei uns zu irgendetwas gezwungen, und wir beachten sehr strikt das Jugendschutzgesetz. Trotzdem steht unsere Szene immer im Geruch der Illegalität.“ Deswegen ist sie nach Berlin gekommen.

Mit Aidshilfeorganisationen, Transgenderanhängern und Pornodarstellern demonstriert sie für einen Mentalitätswechsel in Sachen sexueller Praxis und für einen semiöffentlichen Raum, in dem eine Vielfalt von Lebensphilosophien Platz hat.

Auf einem der 16 Demonstrationswagen sitzt der 23-jährige Pierce. Seine barbusige Freundin hat ihm am ganzen Körper Spritzen gesetzt. Sie sind mit Hutgummi an der Decke des Wagens befestigt. Seine Schneidersitzposition kann er nicht verlassen. Mit dem Schmerz demonstriert er gegen Kindesmissbrauch. Auch das soll hier klar werden: Offene Sexualität ist der Gegensatz von Sexualdelikten. „Mit offener Sexualität meinen wir natürlich nicht, dass überall gefickt wird“, sagt Kirsten Krüger, Betreiberin des KitKat Clubs. „Im öffentlich Raum fordern wir einen toleranteren Umgang mit Erotik. Wir wollen raus aus dem Rotlichtmilieu.“

Gegen halb neun ist die Demo am Wittenbergplatz angekommen. Auf dem Rasenstreifen züchtigt eine Domina einen kriechenden Mann, die Stringfraktion vergnügt sich unermüdlich auf den Wagen. Immer mehr Zuschauer haben sich dazugesellt, tanzen auf der Straße. Viele kommen von der Fuck Parade. Von weitem erinnert das Bild dann doch wieder an die ersten Love Parades. Entspannte Stimmung. Tanzen auf der Straße. Techno. Hier nur mit anerkannt politischer Aussage.