Mutation zum Gutmenschen

Kein Religionsführer hat im vergangenen Jahrzehnt seine Anhängerschaft derart vermehrt wie der 14. tibetische Dalai Lama. Doch engagierter Buddhist ist heute schon, wer nur einen „Free Tibet“-Aufkleber auf dem Kofferraumdeckel spazieren fährt

von COLIN GOLDNER

Zwischen drei- und fünfhunderttausend Anhänger soll der Buddhismus seit Anfang der 90er-Jahre allein in der Bundesrepublik haben. Vor allem in ihrer tibetischen Variante scheint die „Lehre des Buddha“ dem Zeitgeist zu entsprechen: Die Zahl der Sympathisanten des Vajrayana-Buddhismus, als dessen Oberhaupt der Dalai Lama firmiert, geht in die Millionen. Wesentlicher Grund hierfür ist die Dauerpräsenz „Seiner Heiligkeit“ in der Yellow Press.

Das Journal für die Frau beispielsweise geht in einem umfänglichen Report der Frage nach, was denn „eigentlich so faszinierend ist an dieser Religion“, und kommt zu der profunden Einsicht, es sei die „Suche nach sich selbst, nach Sinn und Seelenheil“, die „Sekretärinnen und Arzthelferinnen“ en masse in die buddhistischen Zentren deutscher Großstädte treibe. Noch näher an der Wahrheit dürfte die zum eigentlichen Metier des Magazins überleitende Erkenntnis liegen: „Und sie haben prominente Vorbilder. Richard Gere, geradezu die Inkarnation des männlichen Sex-Appeals, war einer der ersten, der sich zu der südostasiatischen Religion bekannte. 1984 kriegte er eine Midlife-Krise erst in den Griff, nachdem er Buddha kennen lernte.“ Und auch Harrison Ford, Sharon Stone, Sting, Tina Turner und David Bowie „üben sich in den sanften buddhistischen Ritualen“. Patty Smith, Radiohead, Sonic Youth, Rage Against the Machine, Adam Yauch samt seinen Beastie Boys und viele andere mehr zählen zur begeisterten Anhängerschaft des tibetischen Gottkönigs; vorneweg Peter Maffay, für dessen CD „Begegnungen“ der Dalai Lama gar ein Grußwort schrieb.

Die Stars im Scheinwerferlicht, so das Journal für die Frau wissend, „führen vor, was viele in unserer westlichen Kultur empfinden: Weder Ruhm noch Besitz sind Garantie für dauerhafte Zufriedenheit. Was uns fehlt, sind innere Ruhe, Frieden und das Gefühl, mit sich selbst und der Welt in Einklang zu sein.“ Und ebendies biete der Buddhismus im Übermaß: „Alles ist heiter, gelassen, friedlich, sanft, harmonisch, alles lächelt und will nur das Beste. Wenn chinesische Soldaten brutal über Tibet herfallen, bleiben die Bewohner freundlich und gelassen.“

Ungeachtet der Frage, was bei ernsthafter Auseinandersetzung mit dem Buddhismus vielleicht herauskommen könnte, strotzen die Auslassungen konvertierter Promis vor Ahnungslosigkeit. Neuesoterikerin Cleo Kretschmer etwa, die sich in TV-Talkshows über ihre neu gewonnenen buddhistischen Erkenntnisse verbreitet, weiß, dass es da um Mitgefühl und Liebe gehe, irgendwie, und der Dalai Lama schon ein toller Typ sei. Im Übrigen bedeute der buddhistische Weg ein diszipliniertes „Studium der Natur des Geistes“, eine Anstrengung, der sie, Kretschmer, sich bereits seit neun Jahren unterziehe. Interessant ihr Auftritt bei „Vera am Mittag“, bei dem sie wortreich ausführte, selbst Jesus sei bei tibetisch-buddhistischen Meistern in die Lehre gegangen: „Wenn man die Bibel mal gelesen hat, irgendwie, wird man feststellen, sogar Jesus war mal ein paar Jahre weg.“ In ebendiesen Jahren sei er nach Tibet gereist und dort in die „kosmischen Gesetze“ eingewiesen worden. Dass der Buddhismus erst 700 Jahre nach Christus nach Tibet gekommen war, hat Kretschmer bei ihren Studien wohl übersehen. Auf ähnlichem Niveau liegen die Kenntnisse und Bekenntnisse buddhismusbegeisterter TV-Mimen wie Marie-Luise Marjan, Anja Kruse oder Sigmar Kolbach.

Auch Martin Scorsese, Regisseur des im Frühjahr 1998 vorgestellten Streifens „Kundun“, der das Leben des Dalai Lama bis 1959 nachzeichnet, ergeht sich in nichts sagendem Wortgeklingel: „Für mich ist der Buddhismus der Tibeter eine wunderbare Lebenseinstellung vom Frieden des Geistes und der Völker, von Liebe und Mitgefühl. Dogmen, Gier und Gewalt haben ausgedient.“ Drehbuch und Dreh, so Scorsese, hätten ihn geläutert, mit seinen bisherigen Brutalstreifen habe er nichts mehr zu schaffen. Die Bild-Zeitung schwelgte in höherer Dialektik: „Ein Ausnahmefilm: sinnlich und zugleich spirituell, authentisch und zugleich dokumentarisch.“ Zum Inhalt weiß Bild: „Erzählt wird das Leben des 14. Dalai Lamas (Jahrgang 1935). Schön chronologisch: Man fand ihn in einer Bauernhütte, als er 2 war. Aufgewachsen ist der Stellvertreter Buddhas in Tibets Hauptstadt Lhasa, hier wurde er auch von Mönchen auf sein Amt als politisches UND geistiges Oberhaupt des Landes vorbereitet. Nach Chinas Tibet-Invasion von 1949 ist er um eine friedliche Lösung bemüht, trifft 1954 sogar den Vorsitzenden Mao in Peking. Aber nachdem 1959 die Rotchinesen seine Heimat besetzen, flieht er nach Indien. Seitdem lebt er im Exil und kämpft für die Unabhängigkeit Tibets.“ Trefflichst gibt Bild die Geschichtskenntnis der meisten Dalai-Lama-Fans wieder und bestätigt, was diese von Scorsese gelernt haben. Man versorgt sich mit gerade so viel oberflächlicher Kenntnis, dass ein Bildschirm für die eigenen untergründigen Sehnsüchte entsteht. Auf Tibet projiziert, kann man sich diese als echtes Interesse am Schicksal des Landes und seiner Menschen vorgaukeln, um ohne Verrenkungen zum „mitfühlenden Gutmenschen“ zu mutieren.

Der Projektionsfläche „Tibet“ reicht sogar ein buntes Potpourri wie „Little Buddha“, ein Kino-Rührstück von Bertolucci um einen amerikanischen Jungen, der von Exillamas als Reinkarnation ihres verstorbenen Lehrmeisters entdeckt wird. Eingewoben in die Story ist die Legende um Prinz Siddharta Gautama, der seinem Leben als Königssohn den Rücken kehrt, zur Erleuchtung gelangt und fürderhin lehrt, wie diese zu erlangen sei. „Little Buddha“ löste einen ungeheueren Run auf die buddhistischen Zentren im Westen aus.

Vor allem innerhalb der Esoterikszene gilt tibetischer Buddhismus beziehungsweise das, was man dafür hält, als übergeordnete „spirituelle Leitlinie“. Ernsthafte Diskussionen gibt es freilich nicht. Die oberflächliche Kenntnis einiger Begriffe und ein „Gefühl“ für die Sache reichen völlig aus, sich „zugehörig“ zu fühlen; vielfach versteht man sich schon als „engagierter Buddhist“, wenn man einen „Free Tibet“-Aufkleber auf dem Kofferraumdeckel spazieren fährt.

Für viele steht und fällt die Begeisterung für den Buddhismus mit der Figur des Dalai Lama. Das weltweit hohe Ansehen, das „Seine Heiligkeit“ quer durch sämtliche politischen und weltanschaulichen Lager genießt, ist trotz aller Kritik – vor allem werden ihm seine Kontakte zu Rechtsextremisten wie etwa dem japanischen Sektenführer und Massenmörder Shoko Asahara vorgehalten – völlig ungebrochen (abgesehen davon, dass sein unmotiviertes Gekichere wochenlang als Running Gag in Stefan Raabs Blödelshow TV-total zu sehen war). Nach wie vor gilt er als Symbolfigur für Friedfertigkeit, Güte und unendliche Weisheit. Seine Verlautbarungen zur Geschichte Tibets gelten als Wahrheit schlechthin. Nur: Kaum eine seiner Behauptungen über die angebliche Terrorherrschaft der Chinesen hält einer ernsthaften Überprüfung stand. Durch die systematische Sinisierung Tibets, so der Dalai Lama beispielsweise, beabsichtige Beijing, das tibetische Volk „als eigenständige Rasse“ auszurotten. Tatsache ist, wie das Hamburger Institut für Asienkunde feststellte: Der Anteil von Han-Chinesen (einschließlich Militärpersonal) an der Gesamtbevölkerung der Autonomen Region Tibet liegt bei etwa 14 Prozent.

Die unbestreitbaren Menschenrechtsverletzungen in Tibet beziehen sich auf längst nicht mehr aktuelles Geschehen während der Kulturrevolution. Die Anwürfe des Dalai Lama spiegeln nicht die gegenwärtige Realität des Landes wider. Tibet ist heute eine pluralistische Gesellschaft, in der es den gläubigen Buddhisten ebenso gibt wie den knallharten Altkommunisten, den westlich orientierten Computerfreak wie den Diskogänger. Am Dalai Lama ist diese Entwicklung vorbeigegangen. Seine Doktrin des Vajrayana-Buddhismus – ein abstruser Glaube an Karma und Wiedergeburt, blutrünstige Geister, Dämonen und Teufel, Astrologie, Magie und Orakel – hat weder in Tibet noch in den exiltibetischen Gemeinden die Rolle, die Traditionalisten ihr gern zusprechen. Die menschenverachtenden und extrem frauenfeindlichen Rituale des tibetischen Buddhismus sind nur noch für Insider – und in ihrer folkloristischen Ausschmückung für das mehr oder minder ahnungslose Westpublikum – von Bedeutung.

Die Reaktion der Szene auf Kritik ist bezeichnend: Statt inhaltlicher Diskussion gibt es ausschließlich Beschimpfung und Schmähung. Selbst Morddrohungen kamen aus Kreisen der so friedfertigen Buddhisten.