Logik der Eskalation

Von Göteborg nach Genua – die Militanten versuchen nicht, andere zu überzeugen, sie instrumentalisieren die Proteste. Damit schaden sie den Zielen der DemonstrantInnen

Es ist unser Recht, Theorie und Praxisder Militanz öffentlichzu kritisieren und abzulehnen

„Dem Hut soll gleiche Ehre wie ihm selbst geschehen!“ heißt es in Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“. Auch derzeit werden sie wieder allerorten aufgepflanzt, die Gesslerhüte auf hoher Stange. Da muss man sich neigen und die Gewalt von Göteborg und vorsorglich die von Genua verwerfen. Auch von der Gegenseite wird eine Kopfbedeckung aufgepflanzt, diesmal kein Polizeihelm, sondern eine schwarze Kapuze. Ihr Gebot: „Du darfst dich nicht distanzieren.“ Schon Schiller wusste, dass man an Ehrenbezeigungen „die Gehorsamen erkennen“ kann. Wer aber grundsätzlich das Knie nicht beugen will, sieht sich von den Landvögten aller Lager unversehens aus der Gemeinschaft der jeweiligen politischen Couleur ausgegrenzt.

Dass Emotionen hochkommen, wenn physische Gewalt in die Politik gerät, ist verständlich. Gewalt ist für alle Menschen eine existenzielle Erfahrung. Für die meisten ist sie ein Kindheitstrauma. Daher berührt Gewalt in besonderem Maße, selbst wenn sie nur im Fernsehen erscheint. Sei es in Verbindung mit Angst oder mit Macht – Gewalt übt eine ambivalente Faszination aus. Gerade wegen ihrer durchschlagenden Wirkung ist die Versuchung, Gewalt politisch zu instrumentalisieren, bei allen Beteiligten besonders groß. Man kann damit auf einen Schlag Ziele erreichen, für die man sich sonst in jahrelanger Kleinarbeit abmühen müsste. Das weiß nicht nur Otto Schily.

Die große Mehrheit derjenigen, die eine andere Form von Internationalismus wollen als den der neoliberalen Globalisierung, lehnt Gewalt ab. Manche aus prinzipiellen, ethischen Motiven wie dem Pazifismus, andere aus politischen Gründen. Sie erkennen prinzipiell das staatliche Gewaltmonopol an oder nehmen es taktisch hin – mit dem Hinweis, die Kräfteverhältnisse seien nun mal nicht so, als dass Militanz derzeit positive Effekte haben könnte.

Aber es gibt eben auch jene Protestierer, die Gewalt oder eine die staatliche Gewalt provozierende Militanz in ihr politisches Kalkül einbeziehen. So schreibt etwa ein Luciano aus der Freiburger Autonomenszene im Internet: „Wir sollten den Level an Konfrontation nicht schneller steigen lassen als die Unterstützung, die wir von der ‚Zivilgesellschaft‘ haben.“

Darüber sollte gesprochen werden, es sei denn, man wollte eine bestimmte politische Strömung unter Denkmalschutz stellen und die Kritik an ihr zum Tabu erklären. Jener Luciano aus Freiburg hat es geschafft, alle wesentlichen Defekte militanter Politik in einem einzigen Satz unterzubringen:

– das offensive und kalkulierte Ansteuern der Konfrontation mit der Polizei,

– ein strategisches Konzept, das auf einer Eskalationslogik beruht,

– die an Größenwahn grenzende Selbstüberschätzung und das Großsprecherische, als ob es die Militanten in der Hand hätten, gegenüber der Polizei irgendein „Level der Konfrontation“ zu bestimmen,

– die Instrumentalisierung der Zivilgesellschaft, also all der Initiativen, Gruppen, Verbände, NGOs etc., die sich in der globalisierungskritischen Bewegung zusammenfinden.

Mit dem Hineintragen von Militanz in eine soziale Bewegung diktiert man dieser den Charakter ihrer Aktionsformen, ohne sich der Mühe demokratischer Überzeugungsarbeit unterziehen zu müssen. Zu dieser erstaunlichen Leistung sind die Militanten aber keineswegs kraft eigener intellektueller, politischer oder zahlenmäßiger Stärke in der Lage. So wie beim Jiu-Jitsu auch ein Schmächtiger mit guter Technik einen viel Stärkeren durch die geschickte Nutzung von dessen Stärke besiegen kann, so erzielen die Militanten in Wechselwirkung mit dem unvergleichbar stärkeren Staat eine Wirkung, die in keinem Verhältnis zu ihrer politischen Bedeutung steht.

Weniger nett formuliert: Militanz verhält sich unter den gegenwärtigen Bedingungen parasitär zum staatlichen Gewaltmonopol. Anders als im Sport, legen die Militanten allerdings nie den Staat, sondern Dritte aufs Kreuz, nämlich jene „Zivilgesellschaft“, deren Unterstützung sie zugleich einfordern. Gleichzeitig jedoch verachten sie die Zivilgesellschaft als Ansammlung nützlicher Idioten.

Dieses Haltung ist durch und durch undemokratisch. Darüber hinaus grenzt sie aus. Denn jeder, der sein Grundrecht wahrnimmt, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, muss mit zweierlei rechnen.

Erstens werden ihn und sein inhaltliches Anliegen der Schwarze Block und ähnliche Formationen in den Hintergrund drängen. Dies geschieht in subtilem Zusammenspiel mit den Medien, auch hier funktioniert die Jiu-Jitsu-Logik. Das Gewaltthema marginalisiert alles Inhaltliche. Denn die visuelle Logik der Mediengesellschaft hat nicht nur im Genre des Krimis eine besondere Affinität zu Gewaltszenen. Ihre Gier nach dem Sensationellen, die dramaturgischen Bedürfnisse nach Action und Schwarzweißschemata entfalten ihre Wirkung auf dem Hintergrund der existenziellen Gewalterfahrungen. Die Strategen der Militanz wissen, wie die Medien funktionieren und verstehen es, davon zu profitieren. Und niemand kann behaupten, sie wüssten nicht, was sie tun.

Mit Gewalt erreicht man auf einen Schlag Ziele, für die man sonst Jahre arbeiten müsste

Zweitens werden Menschen, die Gewalt ablehnen, sei es aus prinzipiellen Gründen, sei es, weil sie – was absolut legitim ist – Angst haben, von der Teilnahme an solchen Aktionen abgeschreckt. Susan George von ATTAC Frankreich hat ihre Befürchtungen in einer persönlichen Stellungnahme nach dem EU-Gipfel in Göteborg ausgedrückt: „Eine Bewegung kann sich nicht auf Grundlage einer Jugendkultur und mit der Bereitschaft, sich verprügeln zu lassen, entwickeln. Jeder, der Angst vor Tränengas und Gewalt hat – Menschen meines Alters, Familien mit Kindern, Menschen, die körperlich nicht so fit sind – werden künftig nicht mehr an unseren Demonstrationen teilnehmen.“

Selbstverständlich besteht keine Veranlassung, sich von der Politik der Militanz zu distanzieren. Distanzieren ist ein Verb der Bewegung. Wer sich von etwas distanziert, begibt sich von einer Position zu einer anderen. Die Bewegung, die sich für eine Alternative zur neoliberalen Globalisierung engagiert, hat nie auf militante Positionen gesetzt. Daher braucht sie sich auch nicht per Distanzierung auf andere hin zu bewegen. Vielmehr ist es ihr Recht – politisch und moralisch –, Theorie und Praxis der Militanz öffentlich zu kritisieren und abzulehnen. Mit anderen Worten: die Rituale um Distanzierung sind wie der Gesslerhut: nur ein Stück Filz. Lassen wir uns davon nicht beein–drucken.

Postskriptum: Da hier – völlig unausgewogen – kaum von staatlicher Gewalt und „der stummen Gewalt der Verhältnisse“ die Rede war, könnte die eine oder der andere den falschen Schluss ziehen, hier liege Einäugigkeit vor. Es sei daher, auch wenn ich mich damit vor einem anderen Gesslerhut verbeuge, auf die Erklärung von ATTAC Deutschland verwiesen. Dort (http://www.attac-netzwerk.de) ist das Wesentliche dazu gesagt.

PETER WAHL