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: All die schönen Paradiese: von Inseln, dem Westen und anderen Traumorten

Hinter dem Horizont geht’s weiter

Zu den großen Mythen vom Ausstieg aus der westlichen Zivilisation und der Suche nach dem Paradies auf Erden gehört die Geschichte von der Meuterei auf der „Bounty“. Mit seinen Gefolgsleuten versteckte sich 1790 der rebellische Fletcher Christian auf Pitcairn Island, einer unbewohnten, fruchtbaren Insel zwischen Australien und Südamerika, etwa so klein wie der Londoner Hydepark und für damalige Verhältnisse so schwer zu erreichen wie der Mond.

Im 19. und 20. Jahrhundert blühten die Legenden um das vermeintliche Arkadien und die angeblich paradiesischen Zustände, in denen die Nachfahren der Meuterer lebten. Auch die englische Journalistin Dea Birkett machte sich nach Pitcairn auf, doch ihr Reisebericht „Schlange im Paradies“ ist eine eindringliche Dekonstruktion des Mythos.

Misstrauen, Eifersucht und Aggression beherrschen Pitcairn wie jede größere menschliche Gemeinde, nur dass die geografische Enge und Abgelegenheit alles ganz unausweichlich machen. „Wir alle“, notiert Birkett desillusioniert, „tragen einen Ort in unserem Herzen – einen perfekten Ort –, der die Form einer Insel hat. Er bietet uns Zuflucht und Stärke; an ihn können wir uns immer zurückziehen. Mein Fehler war, dorthin zu gehen. Träume sollten genährt und ausgeschmückt werden; Traumorte sollte man nie aufsuchen. Indem ich nach Pitcairn gefahren bin, habe ich den perfekten Ort meiner Fantasie zerstört.“

Der perfekte Ort ist wohl immer da, wo man selbst gerade nicht ist, und entsprechend träumt sich der Bewohner einer paradiesischen Insel in die unerreichbare Ferne der Zivilisation.

„Eine Insel“, heißt es in dem schönen, kleinen Roman „Insel der Winde“ des Algeriers Azouz Begag, „ist ein Durchgangsort, alle Menschen sind von anderswoher, sie kommen und gehen mit dem Wind.“

Ein Abenteurer aus Frankreich wird auf die imaginäre Insel der Winde verschlagen, pflanzt einem eingeborenen Jungen die Sehnsucht nach einem besseren Anderswo ein und verschwindet wieder. Der Junge bleibt zurück, steht am Hafen und hofft, sich auch eines Tages „in die Arme des Horizonts“ werfen zu können.

Überhaupt ist der Horizont das metaphorische Glücksversprechen schlechthin, für das der Texaner Cormac McCarthy in seinen großartigen Romanen immer wieder Bilder von visionärer Leuchtkraft findet.

„Von Westen her blies der Wind übers abendliche Land, die kleinen Wüstenvögel flatterten zwitschernd durchs dorre Farnkraut, Pferd und Reiter und Pferd zogen weiter, ihre langen Schatten glitten hintereinander dahin wie der Schatten eines einzigen Wesens. Glitten verblassend dahin, ins dunkelnde Land, in die künftige Welt.“

Das sind die letzten Worte aus McCarthys gerade verfilmtem Roman „All die schönen Pferde“, in dem es um zwei jugendliche Aussteiger geht, die in Mexiko ihre Träume von Abenteuern wahr werden lassen.

Eine andere klassische, leisere Version des Aussteigers ist der Einsiedler, der uns in Lars Gustafssons Roman „Der Tod eines Bienenzüchters“ in Gestalt eines pensionierten Lehrers begegnet. Er lebt allein mit seinem Hund an einem schwedischen See und betreibt dort, mit sich und der Welt zufrieden, eine Bienenzucht.

Als er erfährt, dass er unheilbar krank ist, beginnt er mit Aufzeichnungen, die sein Verhältnis zur Welt und, falls vorhanden, zu Gott klären sollen. Auch hier wird ins Ferne geblickt, und zwar von einer Eidechse: Das Reptil „schaut mit nüchternem Blick direkt in die Dunkelheit hinaus. Weiß der Himmel, was es sieht. Etwas – anderes?“ KLAUS MODICK

Dea Birkett: „Schlange im Paradies“. btb, 416 Seiten, 20 DMAzouz Begag: „Insel der Winde“. UT, 188 Seiten, 16,90 DMCormac McCarthy: „All die schönen Pferde“. rororo, 318 Seiten, 16,90 DMLars Gustafsson: „Der Tod des Bienenzüchters“. Fischer TB, 251 Seiten, 18,90 DM