Ein Wirtschaftsbericht mit kleinen Spitzen

Minister Müller entschärfte gestern seine Äußerungen zur Reform der Krankenversicherung. Vor allem aber ging es ihm um Grundsätzliches

aus Berlin KATHARINA KOUFEN

Nach ihm die Sintflut: In zwei Tagen fährt Wirtschaftsminister Werner Müller in Urlaub. „Dann muss ich diese Diskussion hier nicht weiterführen“, erklärte er gestern in sichtlicher Ferienvorfreude, als er in Berlin den Jahreswirtschaftsbericht vorstellte.

Die Diskussion über den Inhalt der 71 Seiten dicken Broschüre entbrannte bereits am vergangenen Wochenende, als zwei Passagen aus dem Text vorab bekannt wurden: Darin schlägt Müller vor, dass die Arbeitgeber ihre Beiträge zur Krankenversicherung nicht mehr an die Kassen, sondern an die Angestellten auszahlen. Und er plädiert dafür, so genannten Arbeitsunwilligen die Leistungen zu kürzen.

Während die Opposition und die Wirtschaft die Vorschläge des parteilosen Ministers begrüßten, übten die Gewekschaften und die SPD Kritik. SPD-Generalsekretär Franz Müntefering betonte, Müller vertrete in dem Bericht seine eigene Meinung und nicht die der Regierung. Müller selbst sagte gestern, der Bericht sei „der Bericht eines Ressorts“. Um den Streit zu entschärfen, fügte er hinzu, er habe lediglich „eine Debatte anregen“ wollen. Den Vorwurf, ein Zweiklassensystem in der Gesundheitsversorgung zu etablieren, wies er zurück: „Ich bin ausdrücklich der Meinung, dass ärztliche Betreuung keine Frage von Einkommen oder Reichtum sein darf.“

Zu einer Stellungnahme aus dem Arbeitsministerium, wo man mehr Druck auf „Arbeitsunwillige“ ablehnt, sagte Müller, Riester und er seien im Wesentlichen einer Meinung: Statt ABM-Maßnahmen zu finanzieren, sollten direkte Lohnsubventionen gezahlt werden. Arbeitslose, die einen Job annehmen, müssten einen ordentlichen Teil ihrer Mehreinnahmen behalten dürfen, sonst sei der Anreiz zu gering. Müller: „Ich bin sicher, dass Herr Riester da nichts dagegen hat.“ Im Übrigen handle es sich bei den umstrittenen Vorschlägen um zehn Zeilen, mehr nicht.

Der größte Teil des Berichts befasst sich mit dem „demografischen Wandel“ und wird dabei ganz pädagogisch: Auf 15 Seiten wird eine „Sarah M.“ von der Wiege bis zur Bahre begleitet: Wie sie als Kind von ihren Eltern lebt, später eine Ausbildung macht, arbeitet und Kassenbeiträge zahlt, selbst ein Kind bekommt und schließlich in Rente geht. Allzu realistisch ist dieser Lebenslauf allerdings nicht: „Letzte Woche hat sich schon ein potenzieller Arbeitgeber bei mir gemeldet, obwohl ich mit meiner Ausbildung noch gar nicht fertig bin“, berichtet die Glückliche mit 20. Und mit 35 strahlt sie: „Mein Mann arbeitet Teilzeit – unserer Tochter zuliebe.“

In einem weiteren Kapitel des Berichts diskutiert der Wirtschaftminister mit Professor Knut Borchardt, bei dem er in den 60er-Jahren Volkswirtschaft studierte. Ein guter Trick: Müller sinniert darüber, ob man die Wirtschaft überhaupt steuern kann und soll. Mokiert sich darüber, dass man früher, etwa 1967, schon staatlich gegensteuerte, „weil wir eine konjunkturelle Mini-Delle hatten“. Borchardt übernimmt den Part der wissenschaftlichen Fundierung und erteilt ganz nebenbei eine Absage an die Ökonomen – darunter einige Wirtschaftsweise –, die die drohende Flaute mit Konjunkturprogrammen und Neuverschuldung abmildern wollen.

Ohnehin lässt Müller die ganze Debatte über „Prozente und Promille Wirtschaftswachstum“ kalt: Während der 26 Jahre vor Antritt der rot-grünen Regierung habe es ganze 37 Quartale mit Null- oder Minuswachstum gegeben. Na und? Müller ist nach wie vor optimistisch: „Auf das ganze Jahr 2001 gesehen haben wir durchaus die Chance, die eingeplanten 2 Prozent Wachstum noch zu erreichen.“

meinung SEITE 11