zwischen den rillen
: Das entscheidende Mehr an Experiment und Understatement: India.Arie und Nikka Costa

Sanftes Murren

Erfolg braucht immer Veränderung. Alle paar Jahre setzen sich deshalb die Produktmanager der großen R-’n’-B-Firmen an einen Tisch und überlegen, wie das nächste Big Thing aussehen soll. Dabei schauen sie sich offenbar weder bei den DJ-Meetings in Miami noch bei Puff Daddy um. Stattdessen gehen sie lieber ans Plattenregal ihrer Eltern: Marvin Gaye, Roberta Flack, ein bisschen Blues, hin und wieder sogar Gospel. Und dann fällt ihnen auf, dass sich ein mütterlicher, weicher Frauentyp für den Umsatz gut neben der aggressiven Weiblichkeit des Female Rap machen könnte.

Das hat bei Lauryn Hill funktioniert, und so muss auch India.Arie an ihren Plattendeal mit Motown gekommen sein. Wo ihre Labelkollegin Erykah Badu noch flucht, hört man bei der 25-jährigen India.Arie nur ein sanft spirituelles Murren. Böse Menschen mögen behaupten, dass die Musikerin aus Atlanta mit ihrer Gitarre im Arm an die schnarrende Heulsusigkeit von Tracy Chapman erinnert. Das wäre für Arie auch in Ordnung.

Eher wird ihr Debütalbum „Acoustic Soul“ aber demnächst wohl als Blaupause für eine neue Entspanntheit im R ’n’ B gelten – in der Art, wie Arrested Development 1992 mit „Tennessee“ plötzlich zwischen lauter Gangster-Rappern den positiven Gegenpart erfolgreich besetzen durften für zumindest eine Saison. India.Arie geht ähnlich vor. Auf ihrer Single „Video“ nimmt sie Abstand von stereotypen Sexsymbolen und gibt sich locker. Mal rasiert sie sich die Beine und mal nicht, heißt es gleich im Intro, und später im Song ist sie froh über das, was sie dort hat, wo andere Silikon brauchen – eine gute Handvoll Soul. Die Geradlinigkeit in der Inszenierung von Unschuld und Gefühl, zu der dennoch HipHop die Beats liefert, ist verblüffend: Nie versucht Arie die Fantasie mit anzüglichen Lyrics zu reizen, und wenn sie bei einem Liebeslied wie „Brown Skin“ an Küsse aus „honey coated chocolate“ denkt, dann schmilzt wirklich nur der Hershey-Riegel in ihrem Mund.

Trotzdem geht es nicht um Züchtigkeit und Prüderie auf der Flucht vor Lil’ Kim. Auch Arie hat Spaß am Körper, allerdings kommt davor immer erst das Schaumbad des Bewusstseins, in dem sich akustische Gitarren, alte Fender-Rhodes-Pianos und Streicher vergnügen wie auf Siebzigerjahreplatten von Stevie Wonder. Mit solchen Empfindungen korrespondiert wiederum die Suche nach einer Mitte, die durchaus die Extreme der Leidenschaft kennt. Oder wie India.Arie in „Back to the middle“ singt: Nur vom Tal aus kann man beide Seiten klar sehen. Motown weiß, wie man genau diese Mitte vermarktet: Nicht mehr als R ’n’ B, HipHop oder Neoclassical Soul, sondern ganz einfach als Pop.

Bei Nikka Costa waren die Vorgaben des Showbusiness wesentlich härter. Als Tochter des Produzenten von Paul Anka stand das Mädchen bereits mit sieben Jahren auf der Bühne und sang in Chile vor 300.000 Police-Fans Kinderlieder. Ihr Patenonkel war Frank Sinatra, zum Spielen saß sie im Studio bei Quincy Jones auf dem Schoß, und die ersten Platinalben in Südamerika hatte sie mit 17 Jahren. Normalerweise enden solche ambitionierten Entertainment-Sprösslinge im Werbefernsehen oder als TV-Moderatoren im Nachmittags- und Frühabendprogramm, vielleicht ist sogar mal eine Arztserie drin.

Die heute 29 Jahre alte Nikka Costa hat sich dagegen für Rock entschieden, für quietschende Beastie-Boys-Samples und Jazz-Einsprengsel aus obskuren Aufnahmen von Joe Zawinul. Dass ihr Album „Everybody got their something“ auch ganz gut in die Charts passt, liegt am Gespür für Retrosounds und Tanzbarkeit.

Der Groove verbindet, egal welcher Stil: Mal arbeitet sich Costa durch abgehackte P-Funk-Maschinen, mal knüpft sie beim frühen Lenny Kravitz an, mal wird aus dem Zitat des Zitats eine schön fahrige Ballade, in der ihre Stimme von divenhafter Las-Vegas-Routine bis Janis-Joplin-Gekreische hin und her springt. Gleichzeitig merkt man, dass Nikka Costa schon bei ihrem Vater sehr genau zugehört hat, wie man Songs nicht nur schreibt, sondern auch arrangiert, produziert, verpackt und das Ganze am Ende mit einer hübschen Schleife versieht.

Deshalb ist die Singleauskoppelung „Like a feather“ neben einer guten Kopie der vielen Vorbilder, die sich seit den frühen Kindheitstagen angesammelt haben, auch ein Stück eigener Glamifizierung.

Wenn sie dabei den Song durch eine Flüstertüte krächzt, dann als Zeichen für das entscheidende Mehr an Experiment und Understatement, das einem wie Prince inzwischen komplett fehlt. Und der hat schließlich auch einmal als Wunderkind angefangen.

HARALD FRICKE

India.Arie: „Acoustic Soul“ (Motown/Universal) Nikka Costa: „Everybody got their something“ (Virgin)